Anna Lapwood hat die gute alte Orgel cool gemacht


Charlotte Ellis / Musikfest-Ion
Anna Lapwood gilt als Ausnahmeerscheinung in der klassischen Musikwelt. Denn die Organistin hat das Image ihres Instruments, das oft mit älterer Musik und mit der Kirche assoziiert wird, umfassend verjüngt. Das erfülle sie als Musikerin selbst mit neuer Energie, sagt sie bei einer Begegnung in London. Und tatsächlich spricht sie mit strahlender Begeisterung, aber völlig uneitel von ihrer Musik an der Orgel, vom Zusammenspiel mit ihrem Publikum und von der Möglichkeit, Menschen für klassische Musik zu begeistern. Auch solche, die damit bislang nichts zu tun hatten.
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Anna Lapwoods Geschichte hat mit jahrelanger harter Arbeit zu tun, die eine Grundlage für die fast märchenhaften Fügungen ihres Lebens bildet. Bei einem dieser Zufälle spielte die Besonderheit ihres Instruments eine Rolle. Eine Orgel von der Grösse, wie Lapwood sie benötigt, hat kaum jemand bei sich zu Hause. Dies bringt es mit sich, dass sie ihre Musik in fremden Räumen einstudiert und dabei fremden Menschen begegnet. Ihr Probenraum in London ist die Royal Albert Hall mit einer der grössten Orgeln der Welt, die über mehr als zehntausend Pfeifen und 147 Register verfügt. Üben können Organisten darauf nur, wenn sonst nichts los ist, also zumeist mitten in der Nacht, von 23 Uhr bis 6 Uhr morgens. Dann probt Lapwood, bis sie im Morgengrauen den ersten Zug nach Cambridgeshire nehmen kann, wo sie lebt.
Aber richtig allein ist man im Riesenrund der Royal Albert Hall auch in der Nacht nicht. Währenddessen fegen Putzkolonnen, und Arbeiter, die bereits die nächste Veranstaltung vorbereiten, poltern. Eines Nachts war auch der Musiker Bonobo anwesend, der für seine Ambient- und Downbeat-Produktionen bekannt ist. Bonobo war so beeindruckt von Lapwoods Spiel, dass er sie spontan einlud, am nächsten Abend mit ihm aufzutreten. Er gab ihr Noten, die Zeit war knapp; aber was folgte, war ein Schlüsselmoment ihres Lebens.
Es wurde eine ganz grosse Show: Mitten in Bonobos Stück wurde die bis dahin im Dunkeln liegende Riesenorgel in gleissendes Licht getaucht – wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, mit beträchtlichem cineastischem Effekt. «Ich bewegte mich weit ausserhalb meiner Komfortzone», erinnert sich Lapwood. «Aber es war einer der magischsten Augenblicke meines musikalischen Lebens.» In nahtlosem Übergang zu Bonobos wummerndem Beat brachte Anna Lapwood die Orgel zum Klingen und spielte sich an diesem Abend in eine andere Sphäre des Ruhms.
Auf einmal interessierten sich auch junge Leute für ihre Kunst, denen Orgelmusik bis dahin gleichgültig oder kaum ein Begriff gewesen war. Heute ist das Interesse neuer Hörerschichten nicht mehr nur Lapwoods Zusammenspiel mit Bonobo zu verdanken, sondern ihrer grundsätzlichen Bereitschaft, bei ihren Auftritten über die Bande zu spielen: Pop, Klassik, Filmmusik – sie bezieht alles ein, was ihren eigenen Vorlieben entspricht. Sie mag Filmmusiken von Erich Wolfgang Korngold und von Hans Zimmer, aber auch Taylor Swift. Hinzu kommt ein Kommunikationstalent, das sich über sämtliche Medienkanäle erstreckt.
Sie moderiert Konzerte bei den Proms und Radiosendungen, sie ist eine begnadete Vermittlerin und versteht die digitalen Medien als wertvolle Plattform, um neue Hörer zu gewinnen. «Ich bin eigentlich sehr schüchtern und introvertiert. Aber ich habe gesehen, welche Macht Künstler haben – zum Beispiel, wenn es um ein so missverstandenes Instrument wie die Orgel geht: Ich kann demonstrieren, warum es mich so begeistert.» Auf der Bühne erzählt sie «persönliche Geschichten», die das Publikum mitnehmen. Sie hält auch Vorträge über Themen wie Resilienz und die Erweiterung der eigenen Grenzen und spricht, noch nicht dreissigjährig, jetzt schon davon, der nächsten Generation weiterhelfen zu wollen.
Allein auf Instagram folgen ihr inzwischen eine Million Menschen. Lapwood denkt inklusiv und weiss, dass ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter ihren Fans entsteht, wenn sie während ihrer Konzerte Clips und Fotos aufnehmen, die sie nachher teilen. Sie spricht von «Community» und geteilten Gefühlserfahrungen – an denen sie auch selbst teilhat. Sie lässt sich nämlich von der Begeisterung ihrer Fans tragen und hat nichts dagegen, wenn sie bei Auftritten gefilmt wird, solange die Mobiltelefone andere Besucher nicht stören. Dass die BBC sie zur «Tiktok-Organistin» ernannte, stört sie überhaupt nicht. Sie habe, so sagte es ein englischer Moderator, die Orgel «cool» gemacht und sei «die sichtbarste Organistin der Welt».
Die Prophezeiung der GrossmutterDabei hatte ihre Laufbahn ganz anders begonnen: mit Chorälen hinter Collegemauern in Oxford und Cambridge. Schon ihre Eltern hatten sich in einem Chor kennengelernt. Für Lapwood führte der Weg zur Chormusik über ein drei Jahre dauerndes Orgel-Stipendium am Magdalen College – bei einem rein männlich besetzten Chor. Sie, die eine Mädchenschule besucht hatte, war die erste Frau auf diesem seit mehr als 500 Jahren existierenden Posten, auf dem sie die «steilste Lernkurve» ihres Lebens meisterte.
Mit 21 Jahren wurde sie als jüngste Musikdirektorin an ein Oxbridge College berufen. Am Pembroke College war sie für alle Aktivitäten der Chormusik verantwortlich. In der Praxis bedeutete das vor allem, die verschiedenen Chöre zu dirigieren. Neun Jahre hatte sie als Musikdirektorin am Pembroke in Cambridge gearbeitet, ein verantwortungsvoller Traumjob, wie sie erzählt. Doch sie wollte wieder Orgel spielen, Stücke schreiben und in Auftrag geben. Damals beschloss sie, ein Jahr lang alle Anfragen, die ihr Orgelspiel betrafen, anzunehmen und dann eine Entscheidung zu treffen – Chor oder Orgel. Das war 2019. Und dann kam Covid. Während des Lockdowns gründete sie einen Online-Chor mit mehr als tausend Angestellten des staatlichen Gesundheitssystems NHS, von dem sie noch heute schwärmt. Was damals auch passierte: «Ich habe acht Stunden am Tag Orgel gespielt. Das war der Beginn von dem, was ich jetzt tue», erzählt sie.
Ihre Liebe zur Musik entwickelte sie früh – aus Verehrung für ihren Bruder, der immer wieder Instrumente lernte, die sie dann auch beherrschen wollte. Er gab die Musik wieder auf, sie machte weiter. Im Haus ihrer Grossmutter befand sich nur deshalb ein Klavier, weil eine Wahrsagerin ihr in einem Zirkus prophezeit hatte, dass eines ihrer Kinder ein grosses Talent für Musik entwickeln werde. Am Ende arbeitete keines ihrer Kinder je als Musiker. Doch eine Generation später erfüllte die Enkelin die Prophezeiung, und die Grossmutter triumphierte. Das Klavier gehört neben der Harfe noch heute zu den vielen Instrumenten, die Anna Lapwood neben der Orgel spielt: «Musik war von einem sehr frühen Alter an die natürlichste Kommunikationsform für mich.»
Viele Dinge in ihrem Leben ergaben sich organisch, durch Begegnungen und Ereignisse, für die sie offen bleiben will. Keineswegs habe sie ihre Karriere in der Weise geplant, in der sie sich nun entwickle. «Ich habe keinen Fünfjahresplan – aber ich weiss, was ich in den nächsten beiden Jahren machen will.»
Demnächst geht sie auf Welttournee. Die Hamburger Elbphilharmonie und das Opernhaus in Sidney werden Stationen sein, sie wird in Nürnberg, Köln und Dresden spielen. Auch ein neues Album («Firedove») ist gerade erschienen, das, wie sie sagt, genau ihrer Persönlichkeit entspricht. Es versammelt Stücke aus unterschiedlichsten Genres, von Pop- und Filmmusik bis zur französischen Orgelromantik – ein kühner Mix, doch gerade nicht mit jenem anbiedernden Gestus präsentiert, der den Hörern weismachen möchte, ein Song von Bob Dylan und ein Orgel-Prélude von Maurice Duruflé wären irgendwie dasselbe.
Anna Lapwood liebt vieles an ihrem Instrument, die Bandbreite seiner Ausdrucksfähigkeit etwa: «Man kann die leiseste Sache spielen oder das ganze Gebäude erschüttern.» Fast jedes Konzert klingt anders, weil es auf unterschiedlichen Orgeln an unterschiedlichen Orten gespielt wird. «Seit ich mich dem Instrument auf meine Weise nähere und mich nicht mehr an das von anderen Vorgegebene halte, verliere ich das Gefühl, davon getrennt zu sein. Es ist, wie eine Rüstung anzulegen. Oder, als ob das Instrument und ich diesen Klang gemeinsam schaffen würden. Man kann in einer so positiven Art und Weise so viel Raum für sich beanspruchen. Ich kann es jedem nur empfehlen.»
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