Bauernkriege | Müntzer versus Luther
Merkwürdig, wie nahe uns Luther und Müntzer kommen, wenn wir sie als Typen intellektueller Welthaltung betrachten. Mit seinem Pamphlet wider die »räuberischen Rotten der Bauern« legte Luther 1525 präzise den Finger in eine offene Wunde: hinter der religiösen Verkleidung ging es damals – wie heute – um nackte Interessen. Fast fühlt man sich an Brecht erinnert, der 1935 auf dem Pariser »Kongress zur Verteidigung der Kultur« erklärte: »Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen.« Während alle anderen, Gide, Barbusse, Feuchtwanger und Heinrich Mann, den Wert der Kultur beschworen, die es vor dem Faschismus zu bewahren gelte, stellte Brecht die Frage, wessen Interessen der Vormarsch der Diktaturen diene. Güte komme nicht vom Appell an die Güte wie Rohheit nicht von barbarischen Trieben, »sondern von den Geschäften«, die ohne die gewaltsame Sicherung des Eigentums nicht mehr zu machen seien.
Genauso klar sah das auch Luther. Drei Sünden wirft er den aufständischen Bauern vor: dass sie der gottgewollten Obrigkeit nicht mehr untertänig gehorchen, dass sie rauben und plündern sowie ihre Sünden »mit dem Evangelio decken«, die heilige Schrift als Ideologie zur Bemäntelung ihrer Selbstsucht missbrauchen.
Dabei benutzt auch Luther die Bibel, um die Interessen der Obrigkeit zu verteidigen. Die Bauern beriefen sich auf die Genesis: Alle Dinge seien frei und für alle geschaffen, alle seien gleich getauft, also vor Gott gleich. Sie zitierten einen Vers, der aus England kam: »Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?«
Diesen Anspruch auf Freiheit und Gleichheit, der dem Urchristentum zu eigen war, verwirft Luther: Moses gelte nicht im Neuen Testament, in dem Christus alle Gläubigen mit Leib und Gut unter den Kaiser stelle: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.« Mit dem Paulus-Wort werden sie zu Untertanen schlechthin: »Jederman sei der Gewalt untertan.« Die Taufe befreie nicht Leib und Gut, sondern die Seelen. Die »Freiheit eines Christenmenschen« bestehe darin, sich im Innern zum Dienst an der Welt nach deren Gesetzen zu befreien. Es komme auch nicht auf die »guten Werke« an, deren Anerkennung nur unserer Eitelkeit schmeichelt, sondern auf das liebende Aushalten aller Widerstände und Versuchungen dort, wo Gott uns hingestellt hat.
Hinter der religiösen Verkleidung ging es wie heute um nackte Interessen.
Nun hatten aber die Bauern lange in Gottvertrauen ausgeharrt. Ihre ursprünglichen Forderungen, dargelegt in »Zwölf Artikel der Bauernschaft«, waren »demütige Bitten«, im Namen von »Liebe, Frieden und Einigkeit« formuliert. Luther verkehrt die Realität, wenn er behauptet, die Bauern wollten »der andern fremden Güter gemein haben und ihre eigenen für sich behalten«. Gerade umgekehrt war es die Aneignung, die Privatisierung der Allmende, des gemeinschaftlich genutzten Gemeindeeigentums an Land, Gewässern und Wald durch die Obrigkeit, gegen die sie sich erhoben.
Eigennutz vor Gemeinnutz war die unausgesprochene, doch gelebte Devise der neuen, der frühbürgerlichen Epoche, in der das Geld seinen Siegeszug begann und die Bauern sich verschulden ließ. Die bürgerliche, auf Privateigentum und Warenaustausch basierende Produktions- und Lebensweise setzte die eigentliche Revolution in Gang, die auch die Herrschaft des kleinen Adels untergrub. Die Bauern waren insofern gar keine Revolutionäre, sie wollten nicht etwas Neues, sondern die Wiederherstellung alter Rechte, die sie genauso für gottgegeben hielten wie die Herrschaft einer gerechten, auf den Gemeinnutz bedachten Obrigkeit.
Weil die Herren selber mit immer mehr Pacht-, Zins- und Abgabenforderungen ihnen die Luft zum Atmen raubten, weil sie die Aufständischen mit falschen Versprechungen hinhielten, eigene Zusagen brachen und sich im Nachhinein an den Geschlagenen blutig rächten, deshalb verselbstständigten sich die Kämpfe zur Feuerlawine, die das halbe Reich in Brand setzte.
Und geschah das nicht in allen Revolutionen? Die keineswegs »Lokomotiven der Geschichte« sind, wie Marx sie nannte, sondern mit Walter Benjamin vielmehr der »Griff zur Notbremse«, um einen unheilvoll erlebten Fortschritt aufzuhalten. Immer erhoben sich die Bedrängten und Gedemütigten in ihrer Verzweiflung gegen das Weiter-so, um den Selbstlauf der Dinge aufzuhalten, um zurückzukehren in ein Paradies, das sie nie besaßen, doch der Glaube verhieß ihnen: das »Prinzip Hoffnung« (Bloch).
Thomas Müntzer war solch ein Notbremser, der für das Paradies auf Erden focht. Der Typus des Intellektuellen, der die Welt von unten sieht, die Stimme der geknechteten Leiber, die sich in der gemeinschaftlichen Erhebung als Gottes Kinder erfahren, über sich hinauswachsend als Teil, als lebendiges Glied einer Gemeinde von Freien und Gleichen, in der sich das Göttliche unmittelbar, anarchisch offenbart wie einst in den Dionysien. Dieser Typus braucht keinen Besitz, kein Eigentum, um sich seiner selbst zu vergewissern, denn er lebt physisch und geistig von dieser Gemeinschaft, einer Kommune, in der jeder und jede einander durch ihre Existenz, ihre gemeinschaftlich entfalteten Talente bereichern.
Doch was, wenn die Kommune zerfällt, wenn sich Gruppen bilden, einzelne sich absondern und durch Privatisierung Räume zum Genuss ihrer Besonderheit schaffen? Dann braucht es Vermittlungen, Institutionen und soziale Regelungen, um die aufbrechenden Ungleichheiten zum Gewinn einer übergreifenden Einheit der Verschiedenen auszugleichen.
Luther sah dieses Auseinanderbrechen als drohenden Weltenbrand. Seine Reformation sollte die weltliche Ordnung mit dem Freiheitsanspruch des Einzelnen versöhnen. Deshalb setzte er auf die Macht der protestantischen Fürsten, die sich ihrerseits seiner bedienten, um ebendiese Macht gegen die Ansprüche von Kaiser und Papst zu festigen. Und so verkörpert Luther gegenüber Müntzer den Typus des Vermittlers, des Denkers der Ordnung, der die Welt von oben betrachtet, als eine Stimme der Vernunft, die das Ganze im Wechselspiel seiner widerstreitenden Teile zusammenhält.
War dies die Geburt der Links- und Rechtsintellektuellen? Mit einer Phasenverschiebung oder immanenten Verkehrung: Die Linksintellektuellen gelten spätestens seit der Französischen Revolution als Konstrukteure, die eine ideale Gesellschaft aus abstrakten Prinzipien wie den universalen Menschenrechten quasi am Reißbrett des Verstandes entwerfen, an der sie dann die Realgesellschaften messen. Der ideale Bürger, der »Citoyen«, auch »neuer Mensch« genannt, wird zum Maß des alten, des alltäglichen Menschen, den man auch einen Kopf kürzer macht, wenn er nicht ins Muster passt, wenn er aus der Reihe tanzt und auf seiner eigenen Meinung beharrt.
Dagegen profilieren sich Rechtsintellektuelle im Geist der Romantik als Verteidiger der Natur, einer nicht mehr gott-, sondern naturgegebenen Ordnung, einer organischen statt der konstruierten Gesellschaft. An die Stelle der Staatsmaschine, deren tote Gesetze die Bürokratie verwaltet, soll im organischen Staat des »rassisch« vereinten Volkes die lebendige Beziehung von »Führern und Geführten« treten oder vielmehr sich herausbilden.
Einfacher gesagt: Linke gehen von dem Grundsatz aus, der Reichtum von Natur und Gesellschaft gehöre allen oder keinem. Rechte meinen, dass es nicht für alle reicht, und fordern daher hierarchische Abstufungen des Zugangs nach Ethnie, Klasse, Nation. »America First« oder »Deutschland den Deutschen«: Selektion, so Heiner Müller, war das Grundgesetz des 20. Jahrhunderts. Das 21. Jahrhundert schickt sich an, die Selektion zu digitalisieren. Brauchen wir eine Notbremse?
Eine Langfassung dieses Textes erschien in »Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen«, Heft 1/2025
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