Die absolute Menschenwürde war einst garantiert. Heute ist sie verhandelbar. Das zeigt der Fall Brosius-Gersdorf


Die deutsche Juristin Frauke Brosius-Gersdorf hat Schlagzeilen gemacht. Sie war von der SPD als Richterin für das Bundesverfassungsgericht nominiert und von bürgerlicher Seite verhindert worden, unter anderem wegen ihrer Haltung zur Abtreibung. Für sie gibt es «gute Gründe» dafür, die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gelten zu lassen.
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Brosius-Gersdorf trennt den Begriff des Lebensrechts von der Menschenwürde: Sie erkennt dem Ungeborenen zwar ein Lebensrecht zu, hält die Menschenwürde aber nicht für zwingend ab der Zeugung gültig. So schreibt sie im Abschlussbericht der «Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung» von 2024: «Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gilt, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss.»
Die weltanschauliche Dimension, um die es hier geht, wurde von der parteipolitischen Debatte um die Juristin übertönt. Beim «naturalistischen Fehlschluss» geht es um das Problem, dass aus einer feststellbaren Tatsache über die Natur (dem «Sein») keine unmittelbare normative Aussage abgeleitet werden kann (ein «Sollen»). Beispiel: «In der Natur überlebt der Stärkere. Das Recht des Stärkeren kann daher als gesellschaftliche Norm gelten.»
Aus dem biologischen Faktum des Überlebensprinzips kann nicht einfach eine soziale Ethik konstruiert werden. Im Kontext der Menschenrechte könnte man schlussfolgern: Es ist nicht zwingend, vom blossen Vorliegen menschlichen Lebens, also dem «Sein» eines Embryos, auf das «Sollen» einer absoluten Menschenwürde zu schliessen.
Peter Singer und das schwerbehinderte NeugeboreneIm akademischen Milieu ist dieses Denken bekannt, prominent vertreten etwa durch den australischen Ethiker Peter Singer. Dieser steht für den sogenannten Präferenz-Utilitarismus: Das moralisch Richtige besteht darin, jene Handlungen zu wählen, welche die Interessen aller Betroffenen am besten erfüllen.
Singer lehnt die moralisch höhere Gewichtung menschlichen Lebens gegenüber dem tierischen Leben ab. Er postuliert ein Drei-Stufen-Modell des moralischen Status. Auf der tiefsten Stufe stehen Wesen ohne Bewusstsein, auf der zweiten Stufe bewusst empfindende Lebewesen (Tiere oder Neugeborene) und auf der dritten Stufe entwickelte Personen: Damit gemeint sind Lebewesen mit Selbstbewusstsein und Zukunftsbezug, aber nicht nur Menschen, sondern auch Affen oder Delfine.
Solche Lebewesen geniessen nach Singer den höchsten moralischen Schutz, während die Tötung von Wesen ohne Bewusstsein oder Zukunftsbezug ist für den Ethiker weniger problematisch. Gemäss Singer dürfen auch schwerbehinderte Neugeborene unter Umständen getötet werden. Eine Position, die 2015 breite Kritik auslöste, nicht nur von Behindertenverbänden, sondern auch von Politikern, Ethikern und Theologen.
Wir leben in einer relativistischen KulturDer Präferenz-Utilitarismus läuft auf eine ethische Kosten-Nutzen-Rechnung hinaus, mit welcher der Wert eines Lebens bestimmt wird, gemessen am Interesse aller. Das Ziel ist eine ausgewogene Gesamtbilanz. Das steht im Gegensatz zur klassischen Idee einer Würde des Menschen, die voraussetzungslos und in jeder Lebensphase gilt. So wie dies auch im Naturrecht vorgesehen ist. Dieses beruht auf der Vorstellung, dass gewisse Grundrechte «von Natur aus» bestehen, also über dem Wandel gesellschaftlicher Normsetzungen stehen. Häufig wird das Naturrecht als «überpositives Recht» bezeichnet, das dem geschriebenen Recht (positives Recht) vorgelagert ist.
Während der Aufklärung diente das Naturrecht als Argumentationsbasis für die Proklamation der allgemeinen Menschenrechte. Heute betrachten Kritiker ein «natürliches» Recht als schwer begründbar. Normen und Werte gelten als historisch wandelbar. Der Anspruch auf einen absoluten, für alle Kulturen gültigen Massstab wirkt imperialistisch. Und in der Tat: Wer kann in einer relativistischen Kultur einen universalen Anspruch erheben, dem sich alle unterwerfen sollen?
Würde trägt die MenschlichkeitIm Buch «Das Ende der Neuzeit» (1950) beschreibt der Theologe Romano Guardini den Zusammenhang zwischen der biblischen Gottesebenbildlichkeit und der Entwicklung der Menschenrechte. Die Begründung für die Würde des Menschen ist Gott. Würde ist kein von Menschen festgelegter Wert auf einer Skala anderer Werte, sondern der geistige Boden, der die Menschlichkeit trägt und von Gott kommt. Die Ablehnung der Existenz Gottes führt zum Verschwinden der Idee einer voraussetzungslosen Menschenwürde. Ohne Christentum hätte sich diese Idee nie entwickelt, und sie wird ohne Christentum nicht überleben.
Deswegen hat Guardini vor 75 Jahren prophezeit: Statt der absoluten Menschenwürdegarantie wird es in Zukunft «Wertedebatten» geben, bis man schliesslich alle Werte zu Sentimentalitäten erklären wird, um sie ganz aufzugeben.
Das führt zur Frage, wie eine rechnende Hightech-Zivilisation menschlich bleiben kann. Entweder wird der Wert des Lebens von Experten einer nutzenorientierten Ethik oder Rechtsprechung festgelegt. Oder aber der Mensch glaubt auch in Zukunft an eine absolute Würde, die von Gott kommt, so dass niemand das Recht hat, sie zum Gegenstand einer Güterabwägung zu machen.
Politiker, Medienschaffende und Bischöfe, die sich gegen die Berufung von Brosius-Gersdorf ans Bundesverfassungsgericht ausgesprochen haben, sind gut beraten, sich der ganzen Dimension des Falles zu stellen und einen möglichst breiten Diskurs zu fördern. Einen Diskurs, der klarmacht: Es geht nicht um linke oder rechte Richter, um ideologische oder verfassungsrechtliche Differenzen, sondern um den vorpolitischen Raum der Grundüberzeugungen, um das Fundament der westlichen Zivilisation. Dieses steht auf dem Spiel, wenn in Europa Millionen von Menschen glauben, eine Zukunft ohne Christentum werde mehr Freiheit und Toleranz bringen – ohne sich darüber im Klaren zu sein, wohin die Abwesenheit einer göttlichen Menschenwürdegarantie führt.
Bürgerlich-konservative Kreise mögen so tun, als sei es möglich, ohne Rekurs auf Gott an säkularisierten Christlichkeiten festzuhalten, durch das mediale Beschwören entsprechender «Werte» oder die Berufung auf ein C im Parteiprogramm, das seine religiöse Substanz verloren hat. In Wahrheit besitzt Gott für die Mehrheitsgesellschaft keine lebenspraktische Relevanz mehr. Man lebt, als würde sich der Mensch selber machen und als müsse man es nicht länger hinnehmen, über das subjektive Empfinden und Wollen hinaus eine ewige Wahrheit zu akzeptieren. Relativismus und Utilitarismus sind dann die passenden Philosophien.
Zweifellos stimmt es, dass Gott durch wissenschaftliche Methoden nicht bewiesen oder widerlegt werden kann. Wenn aber nur noch das empirisch Nachweisbare als rational gilt, dann wird die Vorstellung einer göttlichen Menschenwürdegarantie irrational. Dann wird auch der Humanismus der Aufklärung irrational, der sich dem christlichen Menschenwürdebegriff verdankt. Es entwickeln sich die Ideen des Posthumanismus.
In dieser geistigen Situation wäre es, um die Gottesfrage nicht aufzugeben, unter Umständen hilfreich, das juristische Prinzip «Im Zweifel für den Angeklagten» anzuwenden. Aufgrund des Verdachtes, dass er nicht existiert, sitzt Gott auf der Anklagebank der postmodernen Rationalität. Doch die Beweislage ist dünn. Es bleibt ein begründeter Zweifel, und das bedeutet juristisch gesehen Freispruch.
Gott wird freigesprochen vom Verdacht, dass es ihn nicht gibt und er folglich irrelevant für unser Rechtsempfinden ist. Ein solcher Freispruch könnte der Gesellschaft eines Tages grosse Dienste erweisen, wenn die Kosten-Nutzen-Kultur menschlich so kalt geworden ist, dass man sich die Geborgenheit einer voraussetzungslosen, unauslöschlichen Würde zurückwünscht.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.
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