INTERVIEW - Benedikt Weibel über seine Leseabenteuer: «Simone de Beauvoir zu lesen, war magisch, Hans Magnus Enzensberger hat mich von allen Illusionen geheilt»


Seit bald zwanzig Jahren ist Benedikt Weibel nicht mehr Unternehmenschef der SBB. Aber vermutlich gehört er noch immer zu den besten Kennern des Bahnnetzes der Schweiz wie auch der angrenzenden Länder. Der 78-Jährige ist weiterhin – oder heute erst recht – viel unterwegs. Nur die Bahnhofsgastronomie scheint nicht sein Spezialgebiet zu sein. Wir waren für unser Gespräch in der Brasserie im Zürcher Hauptbahnhof verabredet und meinten ganz selbstverständlich die Brasserie Federal – beide ahnungslos, dass es auch noch eine Brasserie Süd gibt. Das Ergebnis: Er wartet im Süden, ich im Federal. Das Missverständnis ist schnell ausgeräumt, und als treue Föderalisten einigen wir uns auf das «Federal».
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Herr Weibel, gerade haben Sie ein Buch über Ihre Leseabenteuer veröffentlicht. Darin stellen Sie hundert Bücher vor, die Sie besonders berührt haben. Sind Sie eine Leseratte?
Ja, das bin ich. Bücher sind die erste Konstante in meinem Leben, sie begleiten mich seit meiner frühen Jugend.
Was liegt derzeit auf Ihrem Nachttisch?
Ein Buch von 1920, das ich 1984 gekauft und nie gelesen habe: Robert Grimms «Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen». Er war einer der Anführer im Landesstreik von 1918 und wurde in der Folge zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Während seiner Haft in der Festung Blankenburg hat er das Buch geschrieben. Seine Lebensgeschichte finde ich grossartig: Er wurde später Regierungsrat und war zuletzt Direktor der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn. Er war Sozialdemokrat wie ich, und dann verbindet uns auch noch die Bahn.
Wieso haben Sie das Buch ausgerechnet jetzt zur Hand genommen, vierzig Jahre nachdem Sie es gekauft haben?
Ich bin zufällig darauf gestossen, und ich dachte, jetzt ist der Augenblick, es zu lesen. Auf dem Nachttisch liegen aber auch Herfried Münklers Studie zum Dreissigjährigen Krieg und Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes».
Das 1918 erschienen ist und wie die Bücher von Grimm und Münkler eine welthistorische Zäsur beleuchtet. Das sieht aus, als würden Sie sich für eine Krise rüsten.
Da ich sehr viele Bücher kaufe, kann ich nicht alle sogleich lesen. Manche warten lange, bis ein Zufall sie mir wieder zuspielt.
Sind solche Bücher so etwas wie ein Notvorrat oder eine Hausapotheke für schwierige Zeiten?
Es ist das Schöne an einer grossen Bibliothek, dass sie auch eine Bibliothek der ungelesenen Bücher ist. Manche Bücher sehe ich immer wieder. Und plötzlich weiss ich, jetzt ist der Zeitpunkt, sie zu lesen.
Suchen Sie in diesen Büchern nach Antworten auf die Fragen der Gegenwart?
Huntingtons «Kampf der Kulturen» war Ende der 1990er Jahre ein höchst umstrittenes Buch, und es ist mit seiner Gegenwartsanalyse noch immer eine der bedeutendsten prognostischen Studien für das 21. Jahrhundert. Wenn ich es heute lese, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, sehe ich, welche prophetische Gabe Huntington hatte. Auch darum habe ich Spenglers «Untergang des Abendlandes» wieder zur Hand genommen. Auch er hatte nach dem Ersten Weltkrieg Ähnliches wie Huntington geschrieben. Dass nämlich unsere eurozentrische Welt allmählich zu einem Auslaufmodell wird.
In Ihrem Buch über Ihre Leseabenteuer geben Sie von jedem der hundert Bücher eine knappe Inhaltsangabe, Sie schildern Ihre Leseeindrücke, bisweilen auch Ihren biografischen Hintergrund, der damit verbunden ist. Mitunter münden Ihre Betrachtungen auch in eine kurze zeitdiagnostische Reflexion. Da entsteht manchmal der Eindruck, dass Sie zu Pessimismus und Skepsis neigen, gerade im Hinblick auf die technologischen Entwicklungen der Zeit.
Ich bin ein emotionaler Optimist und intellektuell eher ein Pessimist. Und ja, es stimmt, ich bin, was die unmittelbare Zukunft betrifft, nicht besonders zuversichtlich. Dave Eggers hat in seinem dystopischen Thriller «Der Circle» manches vorweggenommen, was wir gerade an technologischen Innovationen erleben. Was er darin als friedliche Utopie der totalen Transparenz darstellt, ist in Wahrheit eine boshafte Persiflage auf die totalitären Tendenzen der Digitalisierung. Hinsichtlich der Gegenwart bin ich ein skeptischer Empiriker. Ich will die Dinge mit eigenen Augen sehen.
Zu diesem Verlangen, alles mit eigenen Augen zu sehen und dann zu deuten, gehört auch Ihre Leidenschaft fürs Lesen. Verhält man sich zur Welt anders, wenn man liest und mit den Augen eines anderen in die Gegenwart schaut?
Ich bin überzeugt, dass Bücher eine Art Lebensschule sind. Bücher lösen enorme Projektionen aus. Wir trainieren mit ihnen unser Vorstellungsvermögen. Stefan Zweigs «Schachnovelle» ist dafür exemplarisch. Das hat mich damals komplett aus den Socken gehauen, plötzlich merkte ich, dass man im Kopf Schach spielen kann, ich sah die Schachfiguren vor mir.
In einem der schönsten Texte Ihres Buches schreiben Sie über Simone de Beauvoirs Lebenserinnerungen «In den besten Jahren». War das auch so ein Schlüsselmoment, wo Sie mit einem Buch mehr über das Leben und sich selbst gelernt haben?
Das Buch stand vierzig Jahre in meinem Büchergestell. Ein Buch über die Existenzialisten gab mir dann den Anstoss, es endlich zu lesen. Ich nahm es in die Hand und war komplett hingerissen. Ihre langen Wanderungen in den Bergen, die Aufzeichnungen aus dem Krieg, wo sie plötzlich merkt, dass sie bis dahin in einer ganz anderen, abgehobenen Welt gelebt hat, dann die Partnerschaft mit Sartre und dieser unglaubliche gegenseitige Respekt, das alles hat mich enorm berührt. Das eröffnete mir einen neuen Blick auf Simone de Beauvoir. In solchen Büchern begegne ich mir selber noch einmal neu. Das sind magische Momente. Da passiert etwas mit mir.
Können Sie beschreiben, was in solchen Momenten mit Ihnen geschieht?
Bücher können einen verändern. Man gewinnt Erkenntnisse aus ihnen, aber sie können einen auch von Irrtümern heilen. Hans Magnus Enzensbergers «Der kurze Sommer der Anarchie» hat mich von allen meinen Illusionen befreit. Ich stand damals noch links der Sozialdemokratie, war nah bei der Poch, doch Enzensbergers Geschichte, er nennt es «Roman», aus dem Spanischen Bürgerkrieg war ein Augenöffner. Das Buch hat mich politisch geprägt wie kaum ein anderes.
Neben dem Lesen haben Sie eine zweite Leidenschaft: Berge. Sie kletterten Ihr Leben lang. Was fasziniert Sie an den Bergen und am Klettern? Das Risiko?
Es ist ein Virus mit Suchtpotenzial. Mein Vater war schon Bergsteiger und hat uns Kinder früh mitgenommen. 1961 habe ich die erste schwere Tour gemacht, vor fünf Jahren haben meine Frau und ich die Seile entsorgt. Sechzig Jahre kletterte ich, ich träumte davon, auch nach gefahrvollen Momenten konnte ich nicht davon lassen. Ich kann das nicht erklären. Es hat auch etwas Ästhetisches und Tänzerisches. Und natürlich stand ich immer wieder an dem Punkt, wo ich entscheiden musste: Umkehren und die Niederlage eingestehen? Oder weitergehen? Auch wenn mit jedem Schritt die Fallhöhe zunimmt und die Gefahr grösser wird?
War auch das eine Art Lebensschule? Haben Sie hier den Umgang mit Niederlagen geübt?
Natürlich ist Umkehren eine Niederlage, es kann aber auch ein Zeichen der Stärke sein, da man seine Grenzen anerkennt. Das formt die mentale Stärke. Dabei muss man zwei Dinge wissen: Ohne Stress gibt es kein Wachstum. Und ohne Erholung auch nicht.
Sie waren von 1993 bis 2006 Chef der SBB. Hat Sie das Bergsteigen oder das Lesen auf diese Aufgabe vorbereitet?
In den Felsen habe ich gelernt, mich zu fokussieren. Und Bücher lehrten mich eine allgemeine Lebenskunst. Bei Niccolò Machiavelli heisst es, der Fürst könne erst beweisen, wozu er fähig sei, wenn er in Schwierigkeiten gerate.
Als Bahn-Chef sind Sie mehrmals in Schwierigkeiten geraten. Erinnern Sie sich an den 22. Juni 2005, als ein Stromausfall das ganze Bahnnetz in der Schweiz stilllegte?
Als wär’s gestern gewesen. Aber ich erinnere mich noch viel mehr an den 8. März 1994. Das war der Tag, der mein Leben völlig verändert hat. Die Zugsexplosion in Zürich Affoltern. Man hatte mich mit Blaulicht an den Schadensplatz gefahren, dann sah ich, was dort los war. Der brennende Zug, überall Rauch, beschädigte Häuser. Ich habe gedacht, so ist Krieg. Am 22. Juni 2005 war ich ziemlich entspannt, weil ich wusste, da geht es nicht um Leben und Tod. Aber das Jahr 1994 war schrecklich. Dreizehn Tage nach dem Unglück in Zürich Affoltern wurde in Däniken ein Zug von einem Baukran aufgeschlitzt. Neun Menschen starben. Wieder wurde ich an den Schadensplatz gefahren, es wurden Särge herausgetragen, und dann musste ich vor die Medien treten und Auskunft geben. Und nur drei Monate später ereignete sich bereits das nächste Unglück. Am 29. Juni entgleiste im Bahnhof Lausanne ein Zug mit hochgiftigem Epichlorhydrin. Die Chemikalie ist in Verbindung mit Wasser tödlich. Die ganze Innenstadt von Lausanne musste evakuiert werden. Diese Serie war absolut fürchterlich.
Das muss Sie emotional schwer getroffen haben. Haben Sie damals auch Hilfe in Anspruch genommen?
Ja, meine Frau. Aber ich hatte auch Glück. Ich habe eine starke Konstitution, sie hat mich in Augenblicken äusserster Belastung nicht im Stich gelassen.
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, würden Sie sagen, es sei ein erfülltes und gelungenes Leben?
Ich schaue mit Dankbarkeit zurück. Denn es waren in den entscheidenden Augenblicken das Glück und der Zufall, die mir unglaublich geholfen haben. Zufällig kam ich zu den SBB, zufällig kam ich zum Schreiben, es war Glück, dass ich auch nach meiner Zeit bei den SBB erfüllende Tätigkeiten fand: als Delegierter des Bundesrates bei der Fussball-Europameisterschaft 2008, als Aufsichtsrat bei der SNCF. Ich kann darum sagen, in dieser Hinsicht bin ich ein sehr glücklicher Mensch.
Benedikt Weibel: Abenteuer Lesen. Hundert Quellen der Lust und der Erkenntnis. Edition Exodus, Luzern 2025. 527 S., Fr. 46.90.
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