INTERVIEW - Sprachkritiker Matthias Heine: «Gendern ist die Sprache der Mächtigen»


«Forschende haben das Skelett eines Sauropoden untersucht», war kürzlich in einer grossen Schweizer Tageszeitung zu lesen. Schlagzeilen mit Wörtern wie «Forschende» findet Matthias Heine nicht nur nervig. Er würde sie am liebsten aus den Medien verbannen. In seinem neuen Buch «Der grosse Sprachumbau» prangert er alle Formen des vermeintlich progressiven Neusprechs an, vom Gendern über die leichte Sprache bis zur Wahl von sogenannten Unwörtern.
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Heine arbeitet im Feuilleton der «Welt» und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Wandel der Sprache. Unter anderem hat er über Begriffe geschrieben, welche die Nazis erfunden oder mit neuer Bedeutung gefüllt haben. Trotz alarmistischen Untertönen – Heine spricht von einer «gesellschaftlichen Katastrophe» – ist sein jüngstes Buch eine süffig geschriebene Geschichte über Sprachveränderer, die es nicht erst seit der Erfindung des Gendersterns gibt.
So erfährt man, dass schon die Brüder Grimm die Grossschreibung abschaffen wollten, die Nazis gegen die Frakturschrift waren und wir, hätten sich gewisse Sprachumbauer durchgesetzt, «Fater» statt «Vater» schreiben würden. All das wurde, wie Heine festhält, stets im Namen des Fortschritts propagiert wie heute die Gendersprache.
Herr Heine, kürzlich haben Sie mit der Behauptung, Adolf Hitler habe als erster deutscher Politiker gegendert, einen Aufschrei provoziert. Haben Sie die Reaktionen überrascht?
Hitler war zwar nicht der erste Politiker, der Floskeln wie «Liebe Volksgenossinnen und Volksgenossen» benutzt hat, wie ich in dem Artikel irrtümlicherweise geschrieben habe. Aber ich fand das als Kuriosum interessant. Es ging mir darum, die Anhänger des Genderns ein wenig zu frotzeln, im Sinne von: Bildet euch nicht ein, dass Gendern an sich etwas Gutes ist. Das Echo habe ich unterschätzt. Irgendwelche AfD-Vertreter glaubten, das ultimative Argument gegen das Gendern gefunden zu haben. Linke wanden sich vor Schmerzen, weil ich sie angeblich mit Hitler in Verbindung gebracht hatte. Andere fragten mich, was das solle: ob ich Hitler etwa sympathisch machen wolle.
Vielleicht waren die Reaktionen so heftig, weil Kritik an der Gendersprache oft als rechts und reaktionär gilt. Laut der «Tageszeitung» verursacht Gendern nur bei Männern über 60 Schnappatmung, obwohl es doch ungefährlich sei. Warum bekommen Sie Schnappatmung?
Weil heute eine radikale, identitätspolitische Linke versucht, die Sprache umzubauen. Die deutsche Sprache ist vor rund 1200 Jahren entstanden, sie ist das vielleicht einzige wahre Volkseigentum, das es je gegeben hat. Dieses Eigentum an der Sprache soll nun plötzlich enteignet werden. Der Zugriff ist massiv, und er geht auch von staatlichen Institutionen aus.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Autoritäten schon immer versucht haben, die Sprache zu verändern und zu reinigen. Was ist das Neue an den gegenwärtigen Versuchen?
Es geht nicht mehr nur um einzelne Wörter wie vor dem Ersten Weltkrieg, als französische Wörter wie «Portemonnaie» in Deutschland plötzlich verpönt waren. Nun geht es auch um die Grammatik. Man versucht, Pronomen wie «they» und «them» zu etablieren, führt Hilfszeichen wie * ein und sagt «Geflüchtete» statt «Flüchtlinge». Man will die Struktur der Sprache verändern, das ist etwas anderes als frühere Sprachregelungen. So weit sind nicht einmal die DDR und die Nazis gegangen.
Anhänger der Gendersprache betonen, die Sprache verändere sich eben, den Fortschritt könne man nicht aufhalten. Sie dagegen behaupten, es gehe um einen autoritären Umbau, der von oben verordnet werde. Wie kommen Sie darauf?
Echter Sprachwandel ist es, wenn sich immer mehr Leute entscheiden, den sogenannten Deppen-Apostroph zu benutzen, obwohl ihn der Duden lange nicht zugelassen hat. Und wenn der Duden dann irgendwann in die Knie geht und sagt, wir erlauben das jetzt in bestimmten Fällen, etwa in Firmennamen. Echter Sprachwandel ist es auch, wenn der aus dem Spanischen stammende Gruss «adios» in der Seemannssprache so verhunzt wird, dass es erst «atschüs» und am Ende nur noch «tschüs» heisst oder «tschüss». Das ist Sprachwandel von unten. Er ist entstanden, weil sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Sprechern und Schreibern entschieden haben, so zu sprechen.
Was wir jetzt erleben, ist also kein echter Sprachwandel?
Nein, aber es wird immer mit Sprachwandel erklärt. Der gegenwärtige Sprachumbau geht von kleinen Interessengruppen aus, welche die Gesellschaft über die Sprache formen wollen. Es ist ein internationales Phänomen: Nach dem Fall der Mauer und mit dem Bedeutungsverlust der Arbeiterklasse hat sich ein Teil der Linken neu erfunden, als Internationale der Diskriminierten. Sie war damit sehr erfolgreich, weil dieses Diskriminiertsein nicht objektiv messbar ist. Selbst ein Milliardärssohn, der sich als Frau fühlt, kann sich als Opfer inszenieren, wenn man ihn mit den falschen Pronomen anspricht.
In meiner Schulzeit habe ich oft die «Wochenzeitung» gelesen, die schon in den 1990er Jahren das Binnen-I benutzt hat. Damals war das eine Schrulle einer linken Zeitung. Wie ist das Mainstream geworden?
Ja, die «WoZ» gehörte mit Radio Lora zu den Ersten, die meines Wissens gegendert haben. In Deutschland glaubt man ja immer, das sei die «TAZ» gewesen, aber die Schweizer waren schneller. Solange das auf linke Publikationen beschränkt war und irgendwelche Grünen glaubten, sie müssten im Stadtrat von Oberkleinkadillendorf so sprechen, hat das kaum jemanden berührt. Aber jetzt ist es plötzlich allgegenwärtig. Es ist zur Sprache der Macht geworden.
Inwiefern?
Viele Behörden, Universitäten, Schulen und andere Institutionen sind sich einig mit dem opportunistischen Grosskapital, dass die Sprache «gerechter» werden müsse. Erklärbar ist dieser Siegeszug damit, dass Presse- und Kommunikationsstellen mittlerweile durchsetzt sind mit Absolventen der Neogeisteswissenschaften, die überall Diskriminierungen wittern. Es ist eine halbintellektuelle Kaste, die alle Theorien nachbetet, die an amerikanischen Universitäten Mode sind. Sie will den ungefähr 120 Millionen Deutschsprechern auf der Welt vorschreiben, wie sie sich auszudrücken haben.
Behörden und linke Parteien würden Ihnen widersprechen: Sie sagen, niemand müsse gendern. Vielmehr seien es die Rechten, die einen Kulturkampf führten.
Das ist eine komplette Verdrehung der Tatsachen. Und natürlich ist die Behauptung Quatsch, dass niemand gendern muss. Wenn Behörden nur Aufträge vergeben, sofern der Antragsteller gendert, ist das ein Zwang. In Deutschland gibt es sogar staatlich finanzierte NGO wie die Amadeu-Antonio-Stiftung, die alle Kritiker des Genderns als Frauenfeinde und Rechtsextreme diffamiert. Das erklärt eben auch die «Schnappatmung», die der Sprachumbau in der Bevölkerung auslöst, und das nicht nur bei Männern über 60. Wenn man liest, dass Firmen von ihren Mitarbeitern verlangen, zu gendern, und mich auch meine Bank angendert, wird einem plötzlich klar, wie dominant das ist. Der Zwang richtet sich gegen die Bevölkerungsmehrheit, die gemäss vielen Umfragen nicht gendern will. Nicht einmal für die heute 20-Jährigen ist Gendern selbstverständlich.
In der Stadt Zürich wurde kürzlich eine Initiative abgelehnt, die es der Verwaltung verboten hätte, den Genderstern zu benutzen. Das heisst, eine Mehrheit will Gendern zumindest nicht verbieten.
Allein die Tatsache, dass man in solchen Fällen von einem «Genderverbot» spricht, zeigt den Erfolg linker Politik. Denn es geht ganz einfach um das Gebot, sich an die Rechtschreibregeln zu halten. Der Rechtschreibrat, an dem auch die Schweiz beteiligt ist, rät ausdrücklich vom Gebrauch dieser Sonderzeichen ab. Kompatibel mit der Rechtschreibung sind allenfalls Doppelformen wie «Lehrerinnen und Lehrer» oder Formen wie «Studierende». Wenn mir jemand sagt, ich dürfe «Schweizer» nicht mit «tz» schreiben, ist das auch kein Falschschreibbverbot. Sondern eine Aufforderung, mich bitte schön an die Rechtschreibung zu halten.
Gendern ist in vielen Formen möglich, etwa «Fussgänger*innen», «Fussgänger:innen», «Zufussgehende». Welche nervt Sie am meisten?
Der Doppelpunkt ist grafisch sicher am wenigsten auffällig. Die eigentlich rechtschreibkompatible Form mit den «Zufussgehenden» und «Klavierspielenden» nervt mich fast am meisten, weil sie so aufgeblasen und bürokratisch wirkt. Am Schlimmsten finde ich eine Form, die sich in Deutschland schon recht häufig durchsetzt, etwa in der «Süddeutschen Zeitung» und in anderen Medien: Man benutzt mal die weibliche, mal die männliche Form. Wenn man Berufsgruppen aufzählt, spricht man von Bäckern und Fleischerinnen, Handwerkern und Richterinnen. Man kreiert ein generisches Femininum, verwendet es aber nur inkonsequent. Das führt manchmal zu totaler Verwirrung, weil man nicht weiss: Sind jetzt nur einzelne weibliche Richter gemeint oder alle?
In Ihrem Buch schreiben Sie sinngemäss, es sei Blödsinn, dass man nur an Männer denke, wenn man Wörter wie «Professor» höre, das belegten Studien. Mein Eindruck ist, dass ich bei diesen Wörtern eben doch oft nur männliche Professoren sehe.
Sie sind genau wie ich schon ein Kind einer Zeit, in der man Ihnen das eingeredet hat. Wir begegnen ständig Doppelformen, und selbst ich hab manchmal das Gefühl, das verstösst gegen irgendeinen Konsens. Wenn man möchte, dass die Leute bei Wörtern wie «Professor» oder «Astronaut» an Frauen denken, muss man mehr Professorenstellen mit Frauen besetzen oder mehr Frauen ins Weltall schicken. Meine drei Töchter denken beim Wort «Lehrer» garantiert nicht an Männer, weil es ihrer Lebensrealität entspricht, dass das überwiegend Frauen sind. Die sagen «meine Lehrer» und meinen damit Frauen. Sie sind wohl noch nicht lange genug durch Schule, Politik und Uni Gender-programmiert.
Als «Ursünde» des heutigen Sprachumbaus bezeichnen Sie die Rechtschreibereform von 1998, die ursprünglich neue Schreibweisen wie «Keiser» statt «Kaiser» vorsah und laute Proteste auslöste. Können Sie das ausführen?
Es war das erste Mal, dass eine relativ kleine Expertengruppe eine Reform durchsetzen wollte, die eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt hat. Sie hat es geschafft, die deutschen Kultusminister und die Behörden in der Schweiz und in Österreich zu überzeugen, dass die Rechtschreibung unbedingt verändert werden müsse. Die Hälfte von dem, was sie geplant hatten, mussten sie zwar zurücknehmen, weil es derart desaströs war. Geblieben ist aber das Signal an Aktivisten, dass man ungestraft an der Sprache herumbasteln kann, weil staatliche Entscheidungsträger modern sein wollen.
Besonders seit der Wahl von Donald Trump ist ein Backlash zu beobachten. Firmen wie Audi reden nicht mehr von «Mitarbeiter_innen», und Trump geht mit ähnlichem Furor gegen unerwünschte Begriffe vor wie linke Aktivisten. Kommt Ihr Buch zum falschen Zeitpunkt?
Überhaupt nicht. Heute wird ja gerne gesagt, die internationalen Konzerne hätten Angst vor Trump. Ebenso plakativ könnte man erwidern, dass die ganzen Diversity-Kampagnen und Gender-Offensiven auch aus Angst lanciert worden seien, um den Mächtigen zu gefallen, die vorher im Amt gewesen seien. Natürlich ist es absurd und falsch, was Trump an den Universitäten veranstaltet, etwa wenn Ausdrücke wie «woman» auf den Index gesetzt werden oder Schwarze von Memorial-Seiten entfernt werden. Die Universitäten haben diesen Backlash mit ihrer politischen Einseitigkeit und der Förderung von inkompetenten Leuten jedoch geradezu erbettelt. Im deutschen Sprachraum sehe ich wenig Anzeichen für diese Entwicklung.
Weshalb?
Es gibt zwar eine immer stärker werdende Volksbewegung, die von dem genervt ist. Auch sind in einigen Bundesländern sogenannte Genderverbote für Verwaltung und Schule erlassen worden, und die Bundes-Bildungsministerin hat gerade ihren Beamten den Genderstern und ähnliche Sonderzeichen untersagt. Aber die Ideologie, die der Gendersprache zugrunde liegt, wirkt weiter. Viele sind enttäuscht, dass die Merz-Regierung unter dem Druck der SPD an vielen Dingen festhält, welche die Grünen angeschoben haben, an Queer-Beauftragten und der staatlichen Förderung von NGO, die den Sprachumbau vorantreiben. Der öffentlichrechtliche Rundfunk gendert unbeirrt weiter. Obwohl es wahrscheinlich wenig gibt, was mehr zu seiner Delegitimierung beigetragen hat.
In Ihrem Buch verweisen Sie auf George Orwell, der die Vergewaltigung der Sprache in einem totalitären Regime beschrieben hat. Ist das nicht allzu dick aufgetragen?
Natürlich leben wir nicht in einer totalitären Diktatur wie Winston Smith im Roman «1984», und niemandem wird ein Rattenkäfig über den Kopf gestülpt, wenn er etwas Falsches sagt. Aber wenn man sich das Grammatik- und Neusprechkapitel am Schluss von «1984» anschaut, staunt man doch, wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Etwa, dass man Wörtern neue Bedeutungen gibt, je nachdem, wer sie verwendet. «Sprachpolizei» wurde in Deutschland lange als rechter Begriff verdammt. Als Länder wie Bayern und Sachsen den Gebrauch des Gendersterns untersagten, redeten Linke plötzlich selber von Sprachpolizei. Die Sortierung des Wortschatzes in gute und böse Wörter erinnert stark an «1984», ebenso der inflationäre Gebrauch von Begriffen wie «Hetze».
Weil der Begriff von den Nazis und in der DDR missbraucht wurde, um politische Gegner zu verfolgen?
Hetze ist ein wunderbares – oder eher: schlechtes – Beispiel für historische Unkenntnis. Es war ein zentraler Begriff der NS-Propaganda. Hetze war immer etwas, das die anderen machen, sie konnte mit dem Tod bestraft werden. Propaganda konnte man es nicht nennen, weil dieser Begriff im Nationalsozialismus positiv gebraucht wurde. Auch in der DDR war «staatsfeindliche Hetze» ein Straftatbestand. All das würde einen zurückhaltenden Gebrauch des Begriffs nahelegen. Stattdessen dient er allen möglichen Aktivisten als Legitimierung, den Diskurs im Sinn von Links-Grün zu kontrollieren. Als Robert Habeck das Vorwort der deutschen Ausgabe von «1984» geschrieben hat, war ihm die Ironie wohl nicht einmal bewusst.
Matthias Heine: Der grosse Sprachumbau. Eine gesellschaftliche Katastrophe. Langen-Müller-Verlag, München 2025. 236 S., Fr. 36.90.
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