Stephan Klapproth: «Ich glaube, am 11. September 2001 habe ich das Schweizer Fernsehen ein bisschen gerettet»


Über 23 Jahre lang erschien Stephan Klapproth Abend für Abend um 21 Uhr 50 mit Anzug und Krawatte als Fernsehbild in den Wohnzimmern der Schweiz. Als «10 vor 10»-Moderator verlas er Nachrichten und Hintergründe, befragte Experten und sprach mit Korrespondenten in aller Welt. 2017 verliess er, eines der bekanntesten Gesichter des Schweizer Fernsehens, die SRG. Nun, 66-jährig, wäre Klapproth eigentlich im Ruhestand.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Stattdessen sitzt Stephan Klapproth an diesem Abend im Mai nun in einer privaten Bibliothek. Keine Krawatte, keine Fernsehkameras, dafür Mikrofon und E-Piano. Klapproth, der Nachrichtenmann, ist Teil des kleinen Literaturfestivals «Die Rahmenhandlung», das regelmässig in Zürich und Bad Ragaz stattfindet. Dort liest und singt er zur Melodie des alten Liebes- und Freiheitsliedes «Le temps des cerises» einen Essay, der in politisch harten Zeiten Mut machen soll.
«Ich seh schon, wie die faulen Pflaumen versauert und grau im Kompost sich verlier’n. Und wir sagen, wenn sie klagen, das sei nicht ihr Platz: Wir können mit euch auch den Misthaufen zier’n.» Am Ende macht das Publikum beim Refrain beherzt mit.
Herr Klapproth, wann sind Sie unter die Künstler gegangen?
Als die Anfrage kam, habe ich gesagt: Was soll ich dort? Ich bin doch kein Literat. Ich nehme sogar in die Strandferien lieber ein Philosophiebuch mit als irgendetwas Belletristisches. Aber der Veranstalter sass mir mit der Hartnäckigkeit eines guten News-Journalisten im Nacken.
Es entstand ein «Essai chantant», so nannten Sie Ihren Auftritt.
Die schönsten Textpassagen bringen mich weniger ins Schwingen als ein guter Song, etwa von Bruce Springsteen. Und plötzlich hatte ich den Gedanken: Was, wenn sich die Wahrheit nur singen liesse?
Um die Wahrheit ging es bei Ihnen eigentlich immer. Sie haben in den achtziger Jahren beim Schweizer Radio und Fernsehen angefangen, als Radiomoderator beim «Echo der Zeit». 1993 wechselten sie dann zum wenige Jahre davor gegründeten «10 vor 10». Ein Wagnis?
Ja. Ich dachte nämlich, ich sei viel zu intellektuell fürs Fernsehen. Aber beim Radio hatte ich das Martina-Hingis-Problem: Sie hat mit 21 schon den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht. Bei mir fühlte sich das mit 30 beim «Echo der Zeit» so an. Die Sendung war bereits als Bub mein Traum, den hatte ich erreicht. 1989 etwa sind wir mit unseren Tonbandgeräten durch offene Geschichtsbücher gelaufen; wir waren in Rumänien, als die Diktatur gestürzt wurde, mitten unter den Soldaten und Panzern.
Oscar Alessio / DRS / SRF
Mit dem Schritt vor die Fernsehkamera kam dann auch eine gewisse Bekanntheit in der Schweiz. Hatten Sie sich das erhofft?
Als Journalist will man wahrgenommen werden, ja. Schon nach meiner ersten Woche bei «10 vor 10» baten mich zwei Schülerinnen um Autogramme. Als ich Ja sagte, haben sie die Ärmel hochgerollt: Ich sollte auf den Arm unterschreiben. Ich kritzelte etwas Unleserliches hin – nachweisbar auf Mädchenarme zu schreiben, schien mir allzu heikel. Heute wollen die Leute nur noch Selfies. «Fürs Grosi», sagen die Jungen. Oder, wenn ich Glück habe: «Fürs Mami.»
Gibt es ein gutes Gefühl, erkannt zu werden?
Ja, das tut es. Und die Schweiz ist das ideale Pflaster, um ein bisschen prominent zu sein. Man ahnt, wie es wäre, Bob Dylan zu sein. Aber man behält sein ganz normales, richtiges Leben. Die Leute freuen sich, wenn sie einen auf der Strasse erkennen, aber sie begegnen mir mit Zurückhaltung und Respekt. Von deutschen Kollegen habe ich ganz andere Geschichten gehört.
Als Nachrichtenmoderator haben Sie sich dann bald ein Alleinstellungsmerkmal zugelegt.
Die Sprüche? Purer Zufall! Wir hatten einen Bericht über den Schweizer Astronauten Claude Nicollier, der musste an einem Satelliten etwas flicken, aber es ging schief, ein Kabel riss, und der millionenteure Satellit ging ab. Am Ende der Sendung sagte ich spontan: «Noch ein Wort an unseren Mitbürger Claude Nicollier im Weltall: Sie wurden bitter kritisiert, aber machen Sie sich nichts draus – ich finde, das war ein ganz gerissenes Experiment.»
Ein spontaner, frecher Spruch in einer ernsten Sendung, es hätte Kritik hageln können.
Aber dem Publikum gefiel es. Und den vereinzelten Nörglern rieb ich Horaz unter die Nase, der schon vor 2500 Jahren forderte, jeder, der sich an ein Publikum richte, müsse «prodesse et delectare», nützen und ergötzen. Erst als das Fernsehen voll auf Top-down-Management umschaltete, hat irgendein Cheflein meine Sprüche verboten.
Wie unterscheidet sich das Schweizer Radio und Fernsehen, in dem Sie in den achtziger Jahren angefangen haben, von der SRG, die wir heute kennen?
Ich führte für «Sternstunde Philosophie» mal ein Gespräch mit dem jetzt verstorbenen Anthropologieprofessor und Anarchisten David Graeber. Er hatte einen weltweiten Trend untersucht: Alles wird immer mehr zentralisiert, monopolisiert und vereinheitlicht. Man könnte sagen: Eine Art Sowjetisierung hat blöderweise all unsere westlichen Institutionen ergriffen. Das habe ich auch bei der SRG so beobachtet. Aber erst am Ende. Ich habe beim Schweizer Fernsehen wirklich die fetten Jahre erleben dürfen.
Wie sahen diese fetten Jahre aus?
In den neunziger Jahren galt: Solange eine Sendung gut läuft, hat ihre Redaktion freie Hand. Einmal kam per Telex – also Fernschreiber, so bekamen wir damals unsere Informationen – nach der Sendung die Nachricht rein, dass am nächsten Tag in Nahost das Gaza-Jericho-Friedensabkommen unterzeichnet werde. Heute wissen wir: Hat nicht geklappt. Aber wir flogen damals ohne Kostenantrag und Papierkram noch in der Nacht los, und tags darauf kam «10 vor 10» live aus Jericho. Diese Philosophie zog Draufgänger an, die etwas wagen wollten. Figuren, an die man sich erinnert.
Fehlt dem SRF heute dieser Mut, die bemerkenswerten Figuren auch?
Originelle Köpfe gibt es bei SRF schon noch. Aber ich habe stets vor Zentralisierung und vor dem Newsroom-Konzept gewarnt, bei dem die Dynamik einer verschworenen Redaktion ausgehebelt wird. Sendungen sind heute oft nur noch Etiketten. Der Newsroom erinnert mich an eine Galeere: Alle sitzen austauschbar in ihrem Bauch am Ruder, und vorne steht einer, der Takt und Angriffsgeschwindigkeit angibt. Damit können sich weder Publikum noch Journalisten wirklich identifizieren.
«No Billag» und die Halbierungsinitiative scheinen Ihre Theorie zu unterstützen. Die SRG verliert an Rückhalt in der Bevölkerung.
Ich sehe da eher alte SRG-Feinde am Werk, die die Gunst der Stunde wittern. Die breite Bevölkerung würde eine Halbierung des Fernsehens bereuen, wenn erst auch bei uns Oligarchen-TV zur publizistischen Leitmacht wird. Meine Ex-Kollegin Susanne Wille scheint mir als oberste SRG-Admiralin den spannenden Kurs einzuschlagen, einzugehen auf das Signal des SVP-Medienministers Albert Rösti: «Wenn ihr 10 Prozent einspart, bin ich auf eurer Seite» – das ist eine wichtige Botschaft. Das kann unsere Demokratie retten.
Das Schweizer Fernsehen rettet die direkte Demokratie?
Ich habe zehn Jahre lang an den Universitäten von Genf und Neuenburg eine Vorlesung über den Strukturwandel der Öffentlichkeit gehalten. Die zentrale These: Ohne gemeinsame Diskursbühne keine Demokratie! Man darf sich dort verbal aufs Dach geben, aber die Gesellschaft darf nicht in Splittergruppen zerfallen.
Steffen Schmidt / Keystone
Als Terroristen am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center steuerten, sass die Schweiz vor dem TV – und schaute Ihnen zu, wie Sie eine ganze, ungewisse Live-Sendung durchmoderiert haben.
. . . und das spontan – fünf Stunden am Stück. Ich glaube, an dem Tag habe ich das Schweizer Fernsehen ein bisschen gerettet.
Das müssen Sie ausführen.
Als das erste Flugzeug in Tower eins flog, wusste man nicht: War das jetzt ein Unfall? Ist es Terror? Wir hatten sehr viele Bildschirme mit Nachrichtensendern drauf, bald zeigten fast alle die gleichen schrecklichen Bilder. Nur bei uns auf SRF 1 lief eine Tierdokumentation. Weil ich gerade der erfahrenste Moderator im Haus war, machte ich mich bereit. Ich war überzeugt, in den nächsten Minuten würden wir live gehen. Aber diese Entscheidung fiel nicht: Ausgerechnet an diesem Tag war zufälligerweise keiner der wichtigen Entscheidungsträger erreichbar. Das Schweizer Fernsehen war blockiert.
In New York fällt das World Trade Center, und aus dem Leutschenbach senden sie einen Tierfilm.
Ich war so wütend. Dann traf ich zufällig im Lift den persönlichen Berater des TV-Direktors. Ich sagte: «Du musst jetzt in die Regie gehen und die Umschaltung ins News-Studio befehlen!» Dann setzte ich mich mitten am Nachmittag im Studio ans «10 vor 10»-Pult, und wir gingen live auf Sendung.
Was sagt man dem Publikum, wenn man selber nicht weiss, was los ist?
Ich sass einfach dort und habe mir zugetraut, zu reden. Später kam der ETH-Professor Kurt Spillmann zu mir ins Studio. Er war im deutschen Sprachraum wohl der Erste, der sagte: Nach diesen Attentaten drohe grösste Gefahr, dass der «clash of cultures», der Kampf der Zivilisationen, nun voll entbrenne.
2016 haben Sie erneut ein historisches Ereignis in den USA moderiert: die Wahl von Donald Trump. Das war Ihre letzte Live-Sendung. Als klar war, dass Trump gewinnt, wurden Sie richtig wütend.
O ja! Der Produzent sagte mir während der Sendung immer wieder aufs Ohr: «Nimm Gas weg!» Aber ich wollte nicht. Schon damals stand für mich fest: Das ist keine gewöhnliche Wahl, sondern etwas, das man in der Fachwelt das Paradox der Toleranz nennt: Was soll eine Demokratie tun, wenn jemand kommt, der sie nicht respektiert? Ihm die edlen Prinzipien der Toleranz angedeihen lassen und sich von ihm ausnutzen oder gar zerstören lassen? Trump sagte damals: «Ich anerkenne das Wahlresultat, wenn ich gewinne.» Da muss man nicht besonders schlau sein, um das umzutexten zu: «Ich anerkenne es nicht, wenn ich verliere.» Mit einem solchen Mitspieler im demokratischen Spiel ist die Partie von Anfang an verfälscht. Als demokratisches Medium sah ich das SRF in der Pflicht, das auszusprechen.
Das wollte man beim SRF aber nicht?
Der Produzent blieb einfach beim traditionellen Ausgewogenheitsprinzip. Das ist grundsätzlich richtig. Aber gegen Demokratiezerstörer braucht es in meinen Augen anderes Geschütz. Nach sieben Stunden Sendung waren beim Ombudsmann sieben Klagen gegen mich eingegangen. Eine pro Stunde. Darauf bin ich bis heute stolz.
Was waren es für Klagen?
Unausgewogenheit, politische Stellungnahme, Voreingenommenheit – so was.
Wie sehen Sie das heute?
Wenn heute in Diskussionsrunden, die ich moderiere, jemand sagt: «Ein bisschen hat Donald Trump schon recht», dann grätsche ich dazwischen und sage: Trump hat nie recht, denn nichts, was dieser zynische Nihilist tut, tut er auf einer gesellschaftlich begründbaren Wertebasis. Sein einziger Wert ist der persönliche Profit, darum ist sein Motiv immer falsch.
Gerade wenn es um sogenannt «woke Themen» geht, sind Sie gar nicht so weit weg von Trump.
Mit ihrem identitär-woken Verrat am Universalismus und am «common sense» wird die Linke zum Steigbügelhalter der Rechtspopulisten. Die Critical Race Theory ist eine leninistische Irrlehre. Solange die sozial fortschrittlichen Kräfte hier nicht aufräumen, sage ich auch nach links: Mit euch kann man teilweise gar nicht mehr sprechen.
Was ist der Rat von einem, dessen Beruf das Sprechen ist: Wie bleibt eine Gesellschaft im Gespräch?
Frei nach Voltaire: «Ich hasse, was Sie sagen, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie es sagen dürfen.» Ich träume von einer Gesellschaft und von Medien, wo lustvoll die Fetzen fliegen, die Menschen danach als Gegner und nicht als Feinde auseinandergehen. Denn nur so geht Humanismus: Ich will dir in die Augen schauen können – denn das macht uns Menschen aus.
Wer Stephan Klapproth im Duett mit der Luzerner Jazzsängerin Esther Bucher singen hören möchte, hat dazu am 13. 9. bei «Die Rahmenhandlung» in Bad Ragaz die nächste Gelegenheit.
nzz.ch