Der Heilige im Kapuzenpullover: Wie ein Teenager zum Hoffnungsträger der Kirche wird

Ein Paar mittleren Alters kniet vor dem Sarg nieder, beide versinken ins Gebet, ihre Hände kleben an der Scheibe, hinter der ein aufgebahrter Körper liegt. Die Frau küsst das Glas immer wieder. Neben ihr legt eine ältere Frau eine vollgepackte weisse Plastiktüte auf den Sarg und murmelt leise vor sich hin. Ihr Blick ist starr auf die Tüte gerichtet, sie scheint nichts um sich herum wahrzunehmen.
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Eine Gruppe von Teenagern drückt sich an den Betenden vorbei und blickt staunend in den Glasschrein. Das ist also der neue Hoffnungsträger der Kirche? Der aufgebahrte Junge hinter der Scheibe trägt einen dunkelblauen Kapuzenpullover, Jeans und Nike-Turnschuhe. Er könnte einer von ihnen sein. Und er sieht gar nicht aus, als wäre er seit Jahren tot. Er scheint eher friedlich zu schlafen in dem steinernen Sarg, der wirkt, als würde er über dem Boden schweben.
Das Paar und die ältere Frau verharren minutenlang wie entrückt vor dem Sarg. Derweil strömen durch die alte Holztür immer mehr Menschen in die kleine Basilika. Gruppen von Pensionierten, Familien mit Kindern, verliebte Paare und ungewöhnlich viele Jugendliche.
Die Schlange vor dem Sarg wird immer länger. Trotzdem ist es in der Kirche fast vollkommen still. Die junge Nonne, die neben dem Sarg steht, um die Leute zu Ruhe und Ordnung zu ermahnen, starrt gelangweilt auf ihr Mobiltelefon. Keiner drängt, die Pilger warten geduldig, bis sie an der Reihe sind.
Sie glauben, der Junge im Kapuzenpullover könne Wunder vollbringen – und dass alles, was mit ihm in Berührung kommt, selbst eine besondere Kraft erhält. Viele legen deshalb ihr Kruzifix oder ihren Rosenkranz auf den Sarg, oder gleich eine ganze Tüte voller Devotionalien, die sie im Shop neben der Kirche gekauft haben.
Die Szenen in der Basilika Santa Maria Maggiore in Assisi erscheinen unwirklich. Was hat ein solcher Heiligenkult in der modernen Welt noch zu suchen? Heilige, das sind doch mythische Figuren aus einer anderen Zeit, die über Wasser gingen oder ihre Völker vor Lavaströmen bewahrten. Was soll dieser Teenager mit ihnen gemein haben? Und wer ist er überhaupt, dieser Junge, der da aufgebahrt liegt?
Eine Mutter mit einer MissionEr heisst Carlo Acutis, ist in Mailand aufgewachsen und 2006 im Alter von 15 Jahren an Leukämie gestorben. «Seither bekomme ich jeden Tag Nachrichten aus aller Welt über wundersame Ereignisse», erzählt seine Mutter, Antonia Salzano, bei einem Gespräch im Garten eines Landhauses oberhalb des mittelalterlichen Stadtkerns von Assisi. Die Familie hat das Grundstück gekauft, um es in ein Pilgerzentrum zu verwandeln.


Für Antonia Salzano ist klar, dass ihr verstorbener Sohn täglich Wunder vollbringt: Er heilt Menschen von schweren Krankheiten, er hilft verlorenen Seelen, zum Glauben zurückzufinden, und er soll auch an Teufelsaustreibungen mitwirken.
Die katholische Kirche ist zurückhaltender als die Mutter. Zumindest zwei Wunder hat sie aber offiziell anerkannt und damit den Weg für die Heiligsprechung von Carlo Acutis bereitet. An diesem Sonntag, dem 7. September 2025, wird der Junge mit dem Kapuzenpullover von Papst Leo XIV. auf dem Petersplatz in Rom zum Heiligen erklärt.
Über zehntausend Heilige und SeligeIm offiziellen Verzeichnis aller katholischen Seligen und Heiligen, dem «Martyrologium Romanum», sind 6650 Heilige und Selige sowie 7400 Märtyrer aufgeführt. Es wurde 2004 zum letzten Mal aktualisiert. Seither sind 981 weitere Heilige und fast 3000 Selige hinzugekommen. Die Seligsprechung ist der erste Schritt auf dem Weg zur Heiligsprechung, nicht jeder Selige wird aber ein Heiliger.
Selige wie Heilige sind laut katholischem Glauben bei Gott im Himmel und agieren dort als Fürsprecher der Lebenden. Selige werden meist nur regional verehrt, in ihrem Land, ihrem Bistum oder ihrer Bruderschaft. Die Verehrung von Heiligen hingegen ist für die Kirche weltweit verbindlich.
Die meisten von uns begegnen Heiligen nur noch auf Gemälden in Museen oder Kirchen. Für strenggläubige Katholiken sind sie jedoch allgegenwärtig. Sie haben einen Lieblingsheiligen und tragen dessen Bild oder Anhänger immer bei sich. In schwierigen Zeiten wenden sie sich, je nach Herausforderung oder Problem, auch an andere Heilige. Denn jeder Heilige hat sein Fachgebiet. So hilft der heilige Antonius beim Wiederfinden verlorener Gegenstände, der heilige Gerhard beschützt die Schwangeren und die heilige Barbara die Bergleute.
Die meisten dieser Heiligen sind Figuren aus einer fernen Zeit: geköpfte Märtyrer, aufopfernde Jungfrauen oder Asketen in schäbigen Kutten. Carlo Acutis fällt aus der Reihe. Er ist keine Überfigur aus der Vergangenheit, er ist einer von uns, junge Menschen können sich mit ihm identifizieren. Er ist der erste heilige Millennial. Der erste Heilige in Markenkleidern.
Seine Botschaft ist altbekannt: Er predigte Frömmigkeit und Nächstenliebe. Doch Carlo ist der erste Heilige, der das Wort Gottes online verbreitet hat. Der Vatikan wird ihn deshalb zum Schutzpatron des Internets erklären – und versucht, sich damit ein moderneres Image zu geben.
Er hat es nötig. Seine Werte sind in der säkularisierten westlichen Welt immer schwerer zu vermitteln. Und es sind auch sonst keine einfachen Zeiten für die katholische Kirche. Skandale wegen sexuellen Missbrauchs durch Geistliche oder der Vertuschung durch deren Vorgesetzte haben ihrem Ansehen schwer geschadet. Da kommt eine Identifikationsfigur mit einem Lebenslauf wie Carlo Acutis gerade recht.
Er liebte Fussball, seine Hunde und die PlaystationCarlo wird 1991 in London geboren, wo sein Vater als Investmentbanker arbeitet. Kurz darauf ziehen seine italienischen Eltern zurück in die Heimat. Der Junge wächst im Mailänder Viertel Porta Romana auf. Als Einzelkind wird er behütet und verwöhnt. Die Familie ist wohlhabend, dem Vater gehört eine Versicherungsgesellschaft. Sie leben in einer grossen Wohnung mit mehreren Angestellten.
Carlo liebt Fussball, Karate und seine Playstation. Er hat vier Hunde, zwei Katzen und einen Goldfisch. Die Menschen mögen ihn, weil er sie zum Lachen bringt. Er macht Videos von Verwandten, Freunden und seinen Haustieren, die er am Computer zu witzigen Animationsfilmchen mit Synchronstimmen zusammenschneidet. So erzählt es seine Mutter, Antonia Salzano.
«Carlo war ein ganz normaler Junge, wäre da nicht dieser starker Glaube gewesen.» Schon als Zweijähriger bleibt der Sohn vor jeder Kirche stehen und will hinein, um ein Blumensträusschen vor eine Heiligenstatue zu legen. Die Eltern, selbst keine praktizierenden Katholiken, sind irritiert. Carlo bringt sie in Verlegenheit mit all seinen Fragen zur Religion.
Beten lernt Carlo von seinem polnischen Kindermädchen Beata. Die religiöse junge Frau erzählt ihm auch Geschichten aus der Bibel, die ihn faszinieren.
Mit sieben Jahren feiert Carlo frühzeitig seine Erstkommunion. Von da an besucht er täglich die Messe und empfängt das Abendmahl, die Eucharistie. Für ihn sind die christlichen Rituale nichts Abstraktes. Er glaubt, dass das Brot und der Wein beim Abendmahl tatsächlich der Körper und das Blut des auferstandenen Christus sind. Je häufiger er das Abendmahl empfängt, desto näher fühlt er sich dem Sohn Gottes.
Er nennt die Eucharistie seine «Autobahn in den Himmel», ein Spruch, der später einmal Poster und Souvenirartikel zieren wird.
Wenn Antonia Salzano über ihren Sohn spricht, redet sie so schnell, dass sie zwischendurch um Luft ringen muss. Es scheint, als habe sie Angst, nicht all das sagen zu können, was über Carlo gesagt werden muss. Wenn der Sohn ein Heiliger ist, kann man ihm mit Worten kaum gerecht werden. Und wenn man Antonia Salzano zuhört, wird es schwierig, zwischen Realität und Heiligenerzählung zu unterscheiden.
Auf seinem Schulweg kommt Carlo an Obdachlosen, Drogenabhängigen und Migranten vorbei. Ende der 1990er Jahre leben im Mailänder Stadtzentrum viele Menschen auf der Strasse. Der grossgewachsene Junge mit dem dunklen Lockenschopf bleibt gerne stehen, um mit ihnen zu reden. Im Winter bringt er Decken, Thermoskannen mit Tee oder warmes Essen mit. «Er hat mithilfe unserer Hausangestellten ohne unser Wissen eine eigene kleine Caritas aufgebaut», erzählt die Mutter.
Carlo hat selbst nur wenig Kleider und Spielzeug. Er will nicht viel besitzen, während andere Hunger leiden. Wenn ihm die Mutter ein zweites Paar Schuhe kaufen will, sagt er, eines reiche. «Er konnte auch anstrengend sein, man hatte immer ein schlechtes Gewissen um ihn herum», sagt sie und lacht laut.
Antonia Salzano lacht so gern, wie sie redet. Sie ist in Rom geboren und damit eigentlich Süditalienerin. Sie ist eine Frau mit grossem Herzen und grossen Worten. Wenn es um ihren Sohn geht, manchmal mit allzu grossen Worten.
Das ist für die Kirche nicht unproblematisch. Die Kanonisierung, wie das Verfahren der Selig- und der Heiligsprechung genannt wird, wird meist erst viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte nach dem Tod des Kandidaten abgeschlossen. Heilige haben in der Regel keine lebenden Eltern, die das Bild des Verehrten und damit auch jenes der Kirche mitprägen.


Antonia Salzano ist ein Risiko. Vor der Heiligsprechung haben ihr die vatikanischen Behörden verboten, Interviews zu geben. Wer mit ihr spricht, muss einen seitenlangen Vertrag unterschreiben und zusichern, dass das Gesagte erst zur Heiligsprechung erscheint. Man will Polemik im Vorfeld verhindern und das Narrativ um den jungen Heiligen kontrollieren.
Geschickte LegendenbildungCarlo ist anders und trotzdem beliebt bei seinen Klassenkameraden. Ihre Sticheleien über seine Frömmigkeit nimmt er gelassen. Er hilft ihnen bei den Hausaufgaben und mit dem Computer. Damit kennt er sich aus. Glaubt man seiner Mutter, ist Carlo ein frühreifes Genie, das mit fünf Monaten sprechen kann und mit neun Jahren Informatikbücher auf Universitätsniveau liest.
Der Junge kann nicht verstehen, wieso die Menschen vor Fussballstadions und Konzertsälen Schlange stehen, aber nicht vor Kirchen. «Wir müssen den Glauben besser verkaufen», sagt er zu seiner Mutter. Mit elf Jahren hilft er seinem Pfarrer, eine Website für die Kirchgemeinde einzurichten. Und er beginnt sein grosses Projekt: ein Online-Verzeichnis aller eucharistischen Wunder.
Die Kirche hat über 140 solche übernatürliche Vorkommnisse anerkannt, die mit geweihten Hostien und Wein zusammenhängen. Wie etwa das Wunder, das sich 1411 im kroatischen Ludbreg ereignete. Ein Priester zweifelte an der Gegenwart von Christus, worauf sich der geweihte Wein beim Abendmahl in Blut verwandelte. Oder das Wunder von Tumaco: Nach einem schweren Seebeben im Jahr 1906 drohte die kolumbianische Küstenstadt von einem Tsunami zerstört zu werden. Doch ein mutiger Pfarrer konnte die monströse Welle mit einer Reliquie in der Hand zum Rückzug bewegen.
Carlo will mit seinen Eltern all die 140 wundersamen Orte besuchen. Wegen seines frühen Todes wird ihm dies nicht gelingen, er schafft es aber, seine virtuelle «Wunder-Ausstellung» fertigzustellen.
Der Vater hofft, sein Sohn werde später einmal das Versicherungsgeschäft übernehmen, das er selbst von seinem Vater geerbt hat. Aber Carlo interessiert sich nicht für weltliche Absicherungen. Er vertraut auf Gott. Er will Priester werden.
Die Mutter hat sich zu diesem Zeitpunkt längst mit der Religiosität ihres Sohnes angefreundet und sich selbst dem Glauben hingegeben. Als Carlo sechs Jahre alt gewesen sei, habe ihr ein älterer Priester in Bologna gesagt: «Du hast einen speziellen Sohn, der eine wichtige Mission für die Kirche übernehmen wird.» Da habe ihr spiritueller Weg begonnen, sagt Salzano.
Sie bezeichnet ihren Sohn als ihren Lehrer und als ihren Retter.
«Carlo hat nicht nur mich konvertiert, auch einer unserer Hausangestellten, ein Hindu aus Mauritius, liess sich seinetwegen taufen», erzählt die Mutter. «Und nun lässt er die Menschen in Massen konvertieren.»
Antonia Salzano erzählt Anekdoten aus dem Leben ihres Sohnes, die alle auf ein Ziel hinauslaufen: seine Heiligsprechung. Auch die Ereignisse nach seinem Tod schilderte sie von Beginn an als übernatürlich. Legenden und historische Fakten vermischen sich. Doch das Resultat wird am Ende alles rechtfertigen.
Ohne das Lobbying der Mutter wäre der Prozess der Heiligsprechung von Carlo Acutis nie so schnell abgeschlossen worden – und wahrscheinlich erst gar nie in Gang gekommen. Anfang Oktober 2006 wird Carlo krank. Er ist damals 15 Jahre alt und besucht das Mailänder Jesuiten-Gymnasium Istituto Leone XIII. Erst glauben die Eltern, er habe eine Grippe, doch sein Zustand verschlechtert sich schnell. Die Ärzte im Spital diagnostizieren eine akute Leukämie. Nach einer Blutwäsche fällt der Teenager ins Koma. Am 12. Oktober stirbt er.
Zwei Tage später findet in seiner Pfarrkirche in Mailand die Totenmesse statt. Nicht nur Angehörige, Nachbarn, Klassen- und Fussballkameraden erscheinen in grosser Zahl, auch viele Randständige aus dem Viertel wollen sich verabschieden. Die Mutter wird das später als Beweis anführen, dass ihr Sohn schon damals verehrt worden sei.
Beerdigt wird Carlo später auf dem Friedhof in Assisi, wo seine Familie ein Ferienhaus besitzt. Er hat dies selbst so gewünscht. Er liebte das mittelalterliche Städtchen in Umbrien, in dem die Religion so präsent ist wie kaum irgendwo sonst.
Hier lebten und wirkten gegen Ende des 12. Jahrhunderts die heilige Klara und der heilige Franz von Assisi. Klara begründete den Klarissenorden, San Francesco, wie ihn die Italiener nennen, den Orden der Franziskaner. Dieser war sehr populär und verbreitete sich nach dem Tod des Begründers in ganz Europa, und Assisi wurde dank dem heiligen Franz zu einem der bedeutendsten Pilgerorte des Christentums. Auch Carlo fühlt sich hingezogen zu San Francesco, dem Heiligen der Armen und Randständigen, der Tiere und der Natur.
Antonia Salzano fällt es erst schwer, den Plan Gottes zu akzeptieren. Sie wirft ihm vor, ihr den Sohn zu früh genommen zu haben. Dann beschliesst sie, dem Tod Carlos einen Sinn zu geben: Wenn dieser schon nicht Priester werden konnte, muss Gott Höheres mit ihm vorhaben. Die Mutter widmet ihr Leben nur noch einem Ziel.
Carlo hatte jüngere Kinder, die er im Katechismus unterrichtete, immer ermuntert: «Auch ihr könnt Heilige werden! Ihr müsst nur täglich zur Messe gehen, den Rosenkranz beten, die Beichte ablegen. Und natürlich gut zu euren Mitmenschen sein.» Er selber hatte sein ganzes Leben nach diesen Grundsätzen gelebt. Wer, wenn nicht er, hätte es also verdient, heiliggesprochen zu werden?
Heilige spielten im Christentum von Beginn an eine wichtige Rolle. Schon im 2. Jahrhundert n. Chr. wurden Märtyrer verehrt, die wegen ihres Glaubens hingerichtet worden waren. Nach dem Ende der Christenverfolgung wurden dann vor allem Mönche, Einsiedler und Jungfrauen, die sich durch eine asketische Lebensführung auszeichneten, als Heilige gefeiert. Später auch besonders fromme Bischöfe und weltliche Herrscher.
Heilige dienten schon damals als Vorbilder für die Gläubigen und als Fürsprecher bei Gott. Und sie waren in der Lage, Wunder zu vollbringen.
Nach katholischem Glauben bezeugen Wunder die Nähe einer Person zu Gott. Der Heilige vollbringt dabei selbst keine Wunder, er kann Gott jedoch zu einem göttlichen Zeichen bewegen.
Ursprünglich kam der Anstoss von unten. Menschen, deren Gräber oder Reliquien vom Volk verehrt wurden, galten als heilig. Die Kirchenhierarchie beäugte die Volksfrömmigkeit mit Misstrauen und versuchte, die Praxis im Mittelalter unter Kontrolle zu bringen. Ab dem 13. Jahrhundert wurden Heiligsprechungen schliesslich in Rom besiegelt, und Heilige bekamen eine offizielle päpstliche Urkunde.
«Die Kirche sendet mit der Wahl von Heiligen Signale aus», sagt der Theologe und Kirchenhistoriker Günther Wassilowsky. «Sie kann damit bestimmte Frömmigkeits- und Lebensmodelle prämieren. Oder sie kann gezielt bestimmte Gruppen von Gläubigen ansprechen und an sich binden.»
Johannes Paul II. (1978–2005) und Franziskus (2013–2025) haben dieses Instrument ausgiebiger genutzt als alle anderen Päpste. Der polnische Papst hat während seines Pontifikats 482 Heiligsprechungen vollzogen – und damit doppelt so viele wie seine Vorgänger in den 400 Jahren davor. Der Argentinier hat ihn sogar noch übertroffen. Er hat insgesamt 981 Personen heiliggesprochen.
Unter Johannes Paul II. und Franziskus wuchs der Kreis der Heiligen nicht nur stark, er wurde auch vielfältiger. Wassilowsky, Professor an der Berliner Humboldt-Universität und spezialisiert auf das Papsttum und frühneuzeitliche katholische Rituale und Praktiken, spricht von einer «Globalisierung des Heiligenhimmels».
Zu den mehrheitlich europäischen Geistlichen kamen Ureinwohnerinnen aus Nordamerika, ugandische Märtyrer und philippinische Missionare hinzu – und auch immer mehr Laien. Papst Franziskus sprach gerne vom «Heiligen von nebenan» und meinte damit Heilige, die mitten im Leben stehen und Identifikationsfiguren fürs Volk sind.
Der Prozess der Kanonisierung wurde seit dem Hochmittelalter immer wieder angepasst, bis er schliesslich einer Art Gerichtsverfahren mit strikten Regeln glich. Da Heilige nun offizielle Aushängeschilder der katholischen Kirche waren, stand der Ruf der gesamten Institution auf dem Spiel, wenn man Unwürdige aufs Podest hob. Zudem musste das Verfahren an die wissenschaftlichen Fortschritte angepasst werden, wenn es glaubwürdig bleiben wollte.
Mittlerweile sind für eine Heiligsprechung nicht nur Tausende von Seiten an historischen und theologischen Gutachten nötig, sondern auch Expertenberichte von Medizinern mit Blutbildern, CT-Scans und MRI. «Die Heiligsprechung ist zu einem der komplexesten und langwierigsten Verfahren überhaupt geworden», sagt Günther Wassilowsky, der selber schon Gutachten für Kanonisierungsverfahren geschrieben hat.
Bis zu einer Heiligsprechung vergehen meist viele Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte. Ein Kandidat braucht eine starke Lobby – Massen von Anhängern, die für ihn beten, und einflussreiche und finanzstarke Unterstützer. Denn Heiligsprechungsverfahren gleichen politischen Kampagnen.
Das letzte Wort hat der PapstKurz nach dem Tod ihres Sohnes gründet Antonia Salzano den Verein Carlo Acutis. Sie lässt Flugblätter, Gebetskärtchen und Plakate drucken, um ihren Jungen den Gläubigen näherzubringen. Sie lässt dessen virtuelle «Wundersammlung» in über zwanzig Sprachen übersetzen, um junge Leute in aller Welt zu erreichen. Sie verbreitet die Botschaft ihres Sohnes über soziale Netzwerke und organisiert Veranstaltungen in Kirchen in Italien und überall in Europa.
Die Mutter schickt oder bringt auch Reliquien, also Überreste des Körpers oder winzige Teilchen von Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen von Carlo, in alle Welt. Strenggenommen ist ein solcher Reliquienkult erst nach der Heiligsprechung erlaubt, doch Antonia Salzano weiss, je mehr Gläubige zu Carlo beten und je mehr Wunder dieser vollbringt, desto besser stehen seine Chancen.
Unterstützung bekommt sie von der Mailänder Erzdiözese. Diese eröffnet eine Untersuchung darüber, ob Carlo Acutis ein Heiliger sein könnte. Es ist der erste Schritt auf dem langen Weg zur Heiligsprechung. Das Bistum muss alles, was Carlo online veröffentlicht hat, analysieren und Zeugnisse von Nachbarn, Freunden, Lehrern und Priestern sammeln. Als Leiter wird ein sogenannter Postulator eingesetzt, eine Art Wahlkampfmanager. Er muss erst die Verantwortlichen in der Diözese überzeugen, später dann jene in der Kurie in Rom.
Im Fall von Carlo Acutis übernimmt Nicola Gori diese Rolle, ein Freund der Familie. Gori arbeitet als Journalist für den katholischen «Osservatore Romano» und hat im Auftrag von Antonia Salzano bereits eine Biografie über ihren Sohn geschrieben. Er verfasst einen über tausendseitigen Bericht. Der Teenager habe die modernen Kommunikationsmittel geschickt genutzt, um Gutes zu tun, und grosses Talent gehabt, Menschen zu Gott hinzuführen, schreibt er darin.
2012 stellt die Mailänder Diözese abschliessend fest, dass es keine Hinweise auf eine Sünde von Carlo Acutis gebe. Sie übergibt den «Fall» an die zuständige Behörde der Kurie in Rom: das Dikasterium für Selig- und Heiligsprechungen. Dieses existiert seit 1588. Seine Arbeit ist geheim, und die Mitglieder äussern sich nicht zu Verfahren. Bekannt ist nur, dass die Behörde mehrere tausend Anträge vor sich herschiebt, die bis ins 16. Jahrhundert zurückgehen. Denn solche Verfahren verjähren nie.
Das Dikasterium muss den Bericht des Postulators in einem aufwendigen Verfahren überprüfen und gutheissen. Das letzte Wort hat der Papst. Er allein entscheidet, abhängig von seinen Vorlieben und Präferenzen, welcher Kandidat «verehrungswürdig» ist.
Eine riskante AngelegenheitHeute ist es einfacher als früher, das Leben potenzieller Heiliger zu durchleuchten. Es ist aber auch leichter, kompromittierende Informationen zu finden. «Die Auswahl eines Heiligen ist riskanter geworden», sagt der Theologe Günther Wassilowsky. «Eine so wichtige Personalentscheidung des Papstes darf sich später auf keinen Fall als fragwürdig erweisen.»
Die Kirche kann es sich heute zum Beispiel nicht mehr leisten, jemanden heiligzusprechen, der sexuellen Missbrauch begangen oder diesen als Vorgesetzter geduldet oder vertuscht hat.
Carlo Acutis hat einen klaren Vorteil: Die Vergangenheit eines 15-Jährigen ist einfacher zu überprüfen als die eines 80-jährigen Klerikers, der jahrzehntelang hohe Ämter innehatte. Bereits 2018, sechs Jahre nachdem die Mailänder den Fall an Rom übergeben haben, erklärt Papst Franziskus Carlo Acutis für «verehrungswürdig». Damit beginnt offiziell der Prozess der Seligsprechung.
Und dafür braucht es ein Wunder. Vor einer Seligsprechung muss eine rational nicht erklärbare Tat des Kandidaten bewiesen werden, vor einer Heiligsprechung eine weitere.
Früher gingen Heilige übers Wasser oder hielten mit blossen Händen Lavaströme auf. Seit Wunder jedoch wissenschaftlich nachgewiesen werden müssen, sind sie gewöhnlicher geworden. Ausnahmslos alle in den letzten 75 Jahren anerkannten Wunder waren Heilungen von Kranken.
Selbst diese sind mit dem Fortschritt der Medizin aber schwieriger zu beweisen. Krankengeschichten müssen bis ins letzte Detail analysiert und Fachärzte befragt werden. Es reicht nicht, dass Antonia Salzano jeden Tag Nachrichten von Menschen bekommt, die behaupten, dank ihrem Sohn geheilt worden zu sein. Solche Ereignisse müssen von mehreren Experten für medizinisch unerklärlich und damit für wundersam befunden werden.
Das Wunder, das Carlo Acutis am Ende zuerkannt wird, ist die Heilung von Matheus, einem dreijährigen Knaben aus Brasilien. Dieser litt an einer angeborenen Erkrankung der Bauchspeicheldrüse und musste künstlich ernährt werden. Bevor Matheus am 12. Oktober 2013, dem 7. Todestag von Carlo Acutis, in einer Kirche in seiner Heimatstadt ein Stück von dessen Pullover küsste, gaben ihm die Ärzte nur noch wenige Tage zu leben. Am nächsten Tag ass das Kleinkind ein Steak, Bohnen und Reis, und auf den Scans sah seine Bauchspeicheldrüse plötzlich ganz normal aus.
Weder die Ärzte in Brasilien noch jene in Rom können die Heilung des Kleinkinds medizinisch erklären. 2020 anerkennt der Vatikan das Wunder – noch im selben Jahr wird Carlo Acutis seliggesprochen. Der päpstliche Abgesandte bezeichnet den Jugendlichen in seiner Predigt als Vorbild für alle Christen. Tausende von Personen nehmen an der pompösen Seligsprechung in der Basilika di San Francesco in Assisi teil, über eine halbe Million verfolgen die Feier via Facebook-Streaming in aller Welt.
Per Webcam von überall erreichbar«Wir waren nicht vorbereitet auf diesen Ansturm, erst bei der Seligsprechung wurde uns klar, was für eine Anziehungskraft Carlo hat», sagt Domenico Sorrentino, der Erzbischof von Assisi. Sorrentino empfängt uns in seinem Bischofspalast, direkt neben der Kirche Santa Maria Maggiore, wo Carlo aufgebahrt liegt. Der Komplex wird auch «Santuario della Spogliazione» (Heiligtum der Entkleidung) genannt, weil sich der heilige Franz von Assisi hier vor Gott ausgezogen und ein Leben in Armut gewählt haben soll.


Domenico Sorrentino wurde 2006 zum Erzbischof von Assisi berufen – in dem Jahr, in dem Carlo verstorben ist. «Damals kamen ein paar tausend Besucher jährlich ins Santuario, mittlerweile sind es über eine Million.»
Die Pilgerinnen und Pilger kommen von weit her, um den seligen Blogger zu sehen. Aus Sizilien und Osteuropa, aus den USA und den Philippinen und vor allem aus Mittel- und Südamerika. Die meisten kommen mit einem Anliegen. Sie beten am Sarg von Carlo in der Hoffnung, von einer Krebserkrankung zu genesen, endlich schwanger zu werden oder eine Arbeit zu finden.
Und wer es nicht schafft, hierher zu reisen, der kann den Internet-Heiligen auch aus der Distanz um Hilfe bitten. Denn Sorrentino hat über dem Sarg eine Webcam montieren lassen, über die Gläubige den Jugendlichen im Kapuzenpullover rund um die Uhr sehen und zu ihm beten können.
In Assisi zeigt sich: Heiligenkult ist kein Phänomen der Vergangenheit. Heilige sind als Identifikationsfiguren ungebrochen populär, offenbar sogar populärer denn je.
Vielleicht ist es ein Zeitphänomen. Auch in der säkularen Welt wird ein Kult um Personen betrieben wie nie zuvor: Influencerinnen, Musiker und Fussballstars werden verehrt wie Heilsbringer. Fans reisen um die halbe Welt zu Auftritten ihrer Idole, Fanartikel sind zu einem Milliardengeschäft geworden. Heilige und Reliquien scheinen das religiöse Pendant zu diesem Trend zu sein.
Vielleicht haben wir Heilige und ihre Wunder aber auch nötiger denn je, weil der Glaube daran, dass unsere Welt immer besser, wohlhabender und sicherer wird, erschüttert ist. Wer möchte angesichts von Umweltkatastrophen, Hunger und Kriegen nicht an Wunder glauben und an einen Jungen, der über seinen Tod hinaus Gutes tut?
Und so pilgern jeden Tag Tausende nach Assisi, und in den sozialen Netzwerken wächst die Anhängerschaft des Internet-Heiligen rasant. Davon profitiert nicht nur die Marke Acutis, sondern auch die katholische Kirche. In einer Zeit, in der ihre Gotteshäuser immer leerer werden und ihre Geistlichen fast nur noch mit Skandalen für Schlagzeilen sorgen, ist der junge Laie ein perfekter Werbeträger. Einer, der sich vor Veränderungen nicht fürchtete, sondern diese nutzte, um Gutes zu tun.
Der Vatikan nutzt Carlos Heldengeschichte für die eigene Erneuerung. Einst verteufelte er neue Technologien. Nun preist der Papst das Internet als «Geschenk Gottes».
Nur dreieinhalb Jahre nach der Seligsprechung anerkennt das Dikasterium in Rom ein zweites, auf Carlos Fürsprache zurückgeführtes Wunder: die Heilung von Valeria, einer jungen Frau aus Costa Rica. Sie hatte in Florenz studiert und 2022 bei einem Fahrradunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Wegen einer Hirnblutung gaben ihr die Ärzte keine Überlebenschancen. Da fuhr ihre Mutter nach Assisi und betete einen Tag lang am Sarg von Carlo. Als sie am Abend ans Krankenbett der Tochter zurückkehrte, erwachte diese aus dem Koma.


Nun fehlt nur noch der Segen des Kirchenoberhaupts, und auch dieser lässt nicht lange auf sich warten: Am 1. Juli 2024 beschliessen Papst Franziskus und die Kardinäle im Apostolischen Palast die Heiligsprechung von Carlo Acutis. Knapp zwanzig Jahre sind seit dem Tod des Teenagers vergangen, sein Kanonisierungsverfahren war damit eines der kürzesten in der Geschichte. Zu verdanken ist das dem professionellen Lobbying der Mutter. Aber auch Papst Franziskus. Ohne ihn wäre es nie so schnell gegangen.
Der Millennial Carlo ist für den argentinischen Papst, der sich eine jüngere und volksnähere Kirche wünscht, ein idealer Kandidat. Mit alten Männern in Kutten, wie dem heiligen Franz von Assisi, kann man junge Frauen und Männer nicht mehr in die Kirche locken. Carlo Acutis, der Apostel des Internets, ist ein zeitgemässeres Vorbild.
«Die Jungen von heute sind mit Herausforderungen konfrontiert, die unsere Generation nicht kannte», sagt Carlos Mutter, Antonia Salzano. «Sie sind gefangen in der virtuellen Welt und kommen in der realen Welt nicht mehr zurecht.» Carlo habe die Chancen wie auch die Gefahren der modernen Kommunikationsmittel erkannt und das Internet genutzt, um Gutes zu tun. Damit könne er ein Vorbild für die Jungen sein.
Das hat auch die katholische Kirche erkannt. Mit der Heiligsprechung des 15-Jährigen kann sie eines der wichtigsten Themen der heutigen Zeit positiv besetzen. Anstatt die sozialen Netzwerke zu verteufeln, nutzt sie diese zur Missionierung.
Nach 13 Jahren kein Zeichen von Verwesung?Bereits im April 2019 sind Carlos sterbliche Überreste aus dem Grab in Assisi exhumiert und in den steinernen Sarg im rechten Seitenschiff der Basilika Santa Maria Maggiore gelegt worden. Antonia Salzano erzählt uns, dass der Körper ihres Sohnes nach 13 Jahren unter der Erde weitgehend intakt gewesen sei. Ein Körper, der nicht verwest, wird von den Gläubigen als übernatürlicher Hinweis gesehen und passt besser zum Mythos eines Heiligen als ein mit Silikon präparierter Körper.
Doch Erzbischof Domenico Sorrentino sagt, Carlos Körper habe den normalen Prozess der Verwesung durchlaufen und sei mit Kunst und Liebe wieder zusammengefügt worden. Die Kirche bemüht sich, den Prozess der Heiligsprechung heute so glaubwürdig wie möglich zu gestalten.
Von der Kirche Santa Maria Maggiore bis zur Kathedrale San Rufino sind es nur 400 Meter, und wer will, kann auf diesem kurzen Weg schnell wieder aus der Moderne ins Mittelalter abtauchen. Auf einem Altar in der Kathedrale in einem prächtigen Gold-Reliquiar steht das Herz von Carlo Acutis. Es ist die wertvollste Reliquie des Jungen. Damit möglichst viele Menschen mit ihr in Berührung kommen, war sie auch schon auf Tournee durch Europa. In Köln, Amsterdam und Lissabon konnten Gläubige Carlos Herz sehen und zu ihm beten.
«Wer nicht gläubig ist, mag das kurios finden, aber es geht hier nicht um Magie», erklärt der Erzbischof, Domenico Sorrentino. «Es ist nicht so, dass man diese Reliquie berührt, und dann passiert etwas. Es geht darum, dass der Heilige unter uns weiterlebt, unter anderem durch seine Reliquie.»


Die Verehrung von Körpern von Märtyrern und Heiligen hat im Christentum eine lange Tradition. Ursprünglich wurde an ihren Gräbern gebetet und das Abendmahl gefeiert. Im 6. Jahrhundert fing man dann an, ihre Körper zu zerschneiden, um sie an möglichst vielen Orten anbeten zu können. Dem Herz kam dabei eine besondere Bedeutung zu.
Über die Jahrhunderte verschwanden viele angeblich echte Reliquien wie etwa das Herz des italienischen Jugendseelsorgers und Ordensgründers Don Bosco oder ein Tüchlein mit Blutstropfen von Johannes Paul II. Von anderen Reliquien, wie etwa der heiligen Vorhaut, der angeblichen Vorhaut Christi, tauchten unzählige Kopien auf, so dass keiner mehr wusste, welche die echte war.
Bei der Exhumierung von Carlo Acutis 2019 wurden dem Körper neben dem Herz verschiedene andere Organe und Körperteile entnommen. Der Erzbischof ist für die Aufbewahrung und die Verteilung dieser Reliquien zuständig. Körperteile und Haare liegen an einem sicheren Ort in seinem Büro. Es sind die wertvollsten Reliquien, sogenannte Reliquien ersten Grades. Sorrentino hat aber auch Reliquien zweiten Grades im Angebot, also Gegenstände, mit denen Carlo in Berührung gekommen ist, wie etwa Kleidungsstücke.
Der Erzbischof will uns seinen Reliquienschatz nicht zeigen, die heiligen Überreste sind für ihn eine ernsthafte Sache, er will sie nicht als kuriose Attraktion verstanden wissen. Nur seine persönliche Reliquie, ein winziger Teil des Herzbeutels von Carlo, eingeschlossen in einem silbernen Döschen, lässt er uns sehen.
Das Interesse an Reliquien von Carlo sei gross, sagt der Geistliche. Er bekomme Anfragen von Kirchen, Schulen und Ordensgemeinschaften aus aller Welt. Die Interessenten müssen sich gemäss Kirchenrecht erst an die lokalen Bistümer wenden, und diese leiten die Anfragen an Sorrentinos Büro weiter. Nonnen, die für das Bistum arbeiten, präparieren dann die Reliquien. Sie legen winzige Teilchen eines Organs, ein Haar oder ein Stückchen eines T-Shirts von Carlo in ein schmuckes Schaukästchen, ein sogenanntes Reliquiar, und verschicken es an die Antragsteller.
Für Aufregung im Bischofspalast sorgte ein Medienbericht, laut dem Haare von Carlo im Internet zum Verkauf angeboten wurden. Sorrentino hat deswegen Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Er wisse nicht, ob echte oder gefälschte Reliquien verkauft würden, beides sei jedoch ein schweres Verbrechen, sagt er. Er befürchte, dass der Teufel die Hand im Spiel habe.
Der Bischof betont, dass die Verteilung von Reliquien vollkommen transparent ablaufe und das Bistum keinen finanziellen Vorteil daraus ziehe. Laut Kirchenrecht dürfen Reliquien nicht verkauft werden. In der Vergangenheit haben sich viele Empfänger aber mit Spenden für die Reliquien bedankt. Auch in Assisi dürfte das geschehen, darüber redet aber niemand.
Nicht geregelt ist der Umgang mit Reliquien dritten Grades, das sind Rosenkränze, Gebetskarten und andere Gegenstände, die mit dem Sarg von Carlo Acutis oder einem seiner Körperteile in Berührung gekommen sind. Auch sie sollen eine besondere Kraft haben.
Antonia Salzano und ihr Verein Carlo Acutis verteilen fleissig solche Reliquien, um Werbung zu machen. Pilger tragen sie täglich von Assisi in die Welt hinaus, zusammen mit allen möglichen Souvenirs von Carlo: kleinen Statuetten, Rosenkränzen und Gebetstafeln des zukünftigen Heiligen. Teetassen, T-Shirts und Stofftaschen mit seinem Konterfei. Oder Stifte, Magnete und Postkarten, auf denen einer seiner weisen Sprüche steht.
Heilige sind gut fürs GeschäftBesitzer von Souvenirläden, Gelaterien und Restaurants sind sich einig: Carlo ist gut fürs Geschäft. In den letzten Jahrzehnten gingen die Besucherzahlen in Assisi stetig zurück. Bis der junge Heilige im Kapuzenpullover kam.
Viele im Ort können sich noch an Carletto, wie sie ihn hier liebevoll nennen, erinnern. Der Familie Acutis gehört einer der Palazzi im Centro storico von Assisi. An den Wochenenden und während der Schulferien war Carlo oft hier. Dann sahen die Leute den Jungen mit seinen vier Hunden im Ort spazieren oder mit der Mutter einkaufen.
Er war ein netter Junge, er grüsste auf der Strasse, alle mochten ihn. Das erzählen Bewohner. Doch wer würde in dieser Stadt auch etwas Schlechtes über einen Heiligen sagen, von dem ihre Zukunft abhängt? Was Wahrheit und was Legende ist, ist einmal mehr schwer zu unterscheiden.
Die Einzigen, die der Carletto-Hype kaltlässt, sind zwei ältere Frauen, die für einen Nachmittagsschwatz auf der Piazza vor der Kathedrale sitzen. Für sie ist San Francesco die unbestrittene Nummer eins, und sie machen sich Sorgen, dass ihr alter Heiliger wegen des jungen Heiligen in Vergessenheit gerät.
Der Erzbischof winkt ab. «Carlo ist ein Spross von Francesco. Er hat diesen verehrt. Die beiden sind doch keine Konkurrenten.» Sorrentino hat ein Buch über Francesco und Carlo geschrieben und könnte stundenlang über sie reden. Die beiden Heiligen hätten viel gemeinsam gehabt: Sie seien reich gewesen und hätten doch bescheiden gelebt. Sie hätten sich um Arme und Benachteiligte gekümmert. Und sie hätten nie sich selbst in den Mittelpunkt gestellt, sondern Jesus.
Auch Nicola Gori, der Postulator im Fall der Heiligsprechung von Carlo Acutis, bezeichnete Carlo als «Franz von Assisi des 21. Jahrhunderts». Papst Franziskus – der den Heiligen der Armen derart bewunderte, dass er als Papst seinen Namen wählte – dürfte diese Parallele gefallen haben.
Am 27. April will Franziskus Carlo Acutis auf dem Petersplatz heiligsprechen. Dann erkrankt er und stirbt eine Woche vor der geplanten Kanonisierung. Auch sein Nachfolger, Papst Leo XIV., erkennt jedoch den Wert des Internet-Heiligen für die Kirche. Er wird die Zeremonie am 7. September nun nachholen.
«Ich bin sein Arm auf Erden»Nicht einmal 19 Jahre nach seinem Tod wird Carlo einen Platz im Heiligenhimmel bekommen. Antonia Salzano wird dann offiziell Mutter eines Heiligen sein. «Natürlich fühlt sich das komisch an, es gäbe sicher Frauen, die sich besser geeignet hätten, aber Gott tut manchmal unerwartete Dinge. Vielleicht amüsiert es ihn ja, dass ausgerechnet ich diese Rolle übernehme.»
Doch wie verhält man sich als Mutter eines Heiligen? Viele Vorbilder gibt es in der Geschichte ja nicht. «Es ist eine enorme Verantwortung», sagt Antonia Salzano.
In den letzten Jahren war sie ständig unterwegs, um die Botschaft ihres Sohnes unter die Leute zu bringen. Sie hat auch mehrere Bücher über ihn geschrieben, das letzte zusammen mit ihrem Mann. Zwischendurch empfängt sie Gläubige aus aller Welt, die die Hilfe ihres Sohnes brauchen. «Jeden Tag bekomme ich Nachrichten über neue Wunder, die Carlo vollbracht hat. Er ist da oben, und ich bin sein Arm hier auf Erden.»
Nach dem Tod von Carlo hat Antonia Salzano Zwillinge bekommen, einen Sohn und eine Tochter. Carlo habe ihr die Kinder geschickt, er sei ihr im Traum erschienen, um ihr die Schwangerschaft anzukündigen, sagt sie. Die Zwillinge sind mittlerweile 15 Jahre alt, so alt wie ihr Bruder war, als er starb.
Es ist nicht einfach, als Geschwister eines Heiligen aufzuwachsen. In ihrer Familie dreht sich alles um den älteren Bruder, den sie nie gekannt haben. Als sie klein waren, nahm die Mutter sie zu religiösen Veranstaltungen überall auf der Welt mit, bis es ihnen zu viel wurde, ständig von Gläubigen bestaunt und angefasst zu werden.
Zur Heiligsprechung ist die Familie aber vollzählig nach Rom gereist. Auch der Erzbischof von Assisi wird die Veranstaltung am Sonntagmorgen in der ersten Reihe mitverfolgen. Der Vatikan erwartet Hunderttausende von Gläubigen zu Ehren des Jugendlichen im Kapuzenpullover.
nzz.ch