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Männer in Not und ein Film der Stunde: Max Frischs «Stiller» kommt in die Kinos

Männer in Not und ein Film der Stunde: Max Frischs «Stiller» kommt in die Kinos

Der Erfolgsroman des Schweizer Schriftstellers erzählt von einem Mann, der gerne ein anderer wäre. «Stiller» ist so aktuell wie 1954, als der Roman erschien.

Paul Jandl

Albrecht Schuch als Anatol Stiller, der gerne der Amerikaner White sein möchte, weiss wie ein unbeschriebenes Blatt.

Überall Männer in Sinnkrisen. Männer, die auf ihr Mannsein starren, als bestünde es aus unlesbaren Hieroglyphen. Dass der neue Trend zur martialischen Männlichkeit etwas Tragikomisches hat, kann man leicht übersehen. Vieles dabei ist nicht mehr komisch. Die Gekränktheit macht jetzt Ernst. Wie so etwas geschieht, kann man eigentlich schon in Max Frischs Roman «Stiller» nachlesen. Vor über siebzig Jahren erschienen, ist das Buch die gleichermassen vertrackte wie präzise Beschreibung eines Menschen, der ein anderer sein möchte, weil ihn die Welt nicht so sieht, wie er sich selbst gern sehen möchte.

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«Ich bin nicht Stiller!» lautet der berühmte erste Satz bei Max Frisch. Wer den Roman verfilmt, kommt um diesen Satz nicht herum. Der Schweizer Regisseur Stefan Haupt lässt ihn seinen Stiller gleich mehrmals mit bedeutungsschwerem Blick in die Kamera sagen. Ein Blick wie ein Handschlag.

Können die Augen von Albrecht Schuch lügen? Das weiss man erst einmal nicht, ahnt aber bald: Hier spielen die Hauptdarsteller den Film an die Wand, holen aus einem bieder fernsehfilmtauglichen Drehbuch das Beste heraus. Neben Schuch, der den seltsamen Amerikaner James Larkin White spielt, der wiederum behauptet, nicht Anatol Stiller zu sein, glänzt auch Paula Beer als Stillers Frau Julika. Ihre Gebrechlichkeit zieht der reissbretthaften Handlung etwas Psychologie ein, aber die ist für Stefan Haupt sonst kaum Thema. Er macht aus Max Frischs Vorlage einen Kriminalfall. Ist er es, oder ist er es nicht?, lautet dann die schlichte Frage.

Es ist eher wie bei Dürrenmatt als bei Frisch. Tatbestand Identitätstäuschung und Urkundenfälschung. Nichts, was den Schweizer Behörden gefallen kann, und so dürfen sie auch den ganzen Film über ihre besorgten Häupter wiegen. Ein Kommunist soll dieser Stiller ja auch sein. Ein Spanienkämpfer, womöglich ein Umstürzler.

Beziehungskiste

Für seine Filmfassung hat Haupt grosszügig gestrichen. Es beginnt mit der Verhaftung des vorgeblichen Mister White im Zug und endet mit der Entlassung des überführten Anatol Stiller aus dem Gefängnis. Den weiteren Lebensweg, konkret: den zweiten Teil des Romans, lässt der Regisseur unter den Tisch fallen. So wird man im Kino Zeuge eines Beziehungsmelodrams.

In einem Hin und Her aus Fünfziger-Jahre-Gegenwart und Rückblenden wird die Geschichte der Balletttänzerin Julika und des Bildhauers Anatol erzählt. Dabei hat sich Stefan Haupt ein paar Tricks ausgedacht. Julika erkennt ihren vor sieben Jahren verschwundenen Anatol gleich bei der ersten Gegenüberstellung, obwohl der noch eine ganze Weile behaupten wird, nicht Stiller zu sein. Bis aber am Ende alles klar ist, spielt ein anderer Schauspieler den gar nicht so viel jüngeren, damals noch nicht verschwundenen Anatol.

In dieser Rolle und in Schwarz-Weiss darf sich der Basler Sven Schelker in die Tänzerin Julika verlieben und mit ihr eine monströs narzisstische Beziehung eingehen. Das Künstler-Ego des mässig erfolgreichen Bildhauers wankt unter der Last der zierlichen Ballettgrösse. Ihre Zürcher Bühnenerfolge muss man aushalten können. Dieser Stiller kann es nicht. Eifersüchtig wütet er in seinem Dachbodenatelier, das aussieht wie direkt vom Montmartre geklaut. Als seine Frau schon Blut hustet, fragt er sie, ob das überhaupt stimme mit der Tuberkulose. Will sie sich nur interessant machen?

Auf hartherzige Weise interessant für den Bildhauer ist Sibylle (nüchtern gespielt von Marie Leuenberger), die Frau jenes Staatsanwalts, der sich später mit dem Fall James Larkin White befassen wird. Im Roman liefert die Affäre vieldeutige Gegenbilder zum klassischen Beziehungskorsett der fünfziger Jahre, aber bei Stefan Haupt führt sie zu nichts. Selbst die Doppelrolle des vom Schauspieler Max Simonischek mit düsterer Empathie ausgestatteten Staatsanwalts, der Betrogener und Aufklärer zugleich ist, wirft nichts ab.

Pathetisch in der Zürcher Altstadt

Für Max Frisch war sein erster grosser literarischer Erfolg auch ein Selbstverständigungstext. Das Ich, das von seiner eigenen Jämmerlichkeit gekränkt ist, steigert sich in den Furor des Grössenwahns hinein. Ich kann auch ein anderer sein. Von solchen komplexen Kippeffekten, die auch das Leben des Schriftstellers geprägt haben, will Stefan Haupts Film schon aus erzählökonomischen Gründen nichts wissen. Brav folgt man den Ermittlern in der Causa Stiller und der Wiederannäherung eines Paares, das sich auf fast biblische Weise erkennt.

In einem exquisit grün getäfelten Zimmer hoch über Zürich kommt es zum ersten Mal nach Stillers Verschwinden zum Sex. Der Häftling ist auf Kaution frei, damit man ihn seiner wahren Identität überführen kann. Man sieht die beiden wie in einem Tourismus-Werbespot durch die Zürcher Altstadt spazieren, auf dem Lindenhof und am Zürichhorn. Auch ein Davoser Lungensanatorium kommt vor.

Der Film «Stiller» ist hübsches Oberflächentheater, aber nicht viel mehr. Die fünfziger Jahre sind hier kein Ort gesellschaftlicher Widersprüche, sondern ein ästhetisches Phänomen wie aus dem Mid-Century-Laden. Die Kamera gleitet vorbei an tiefschwarzen Möbeln, polierten Limousinen und dem dunkelrot geschminkten Mund der Julika Stiller. Ein verzweifelt ungläubiges Lächeln liegt auf diesem Mund, der von der Blässe des Todes umgeben ist. Albrecht Schuchs muskelstrotzende Gegenwärtigkeit bildet zu Paula Beers ätherisch dargebotener Zartheit einen ergreifenden Kontrast.

Der Kraftprotz und die Zarte: Anatol Stiller (Albrecht Schuch) und seine Frau Julika (Paula Beer).

Gibt es einen Frisch-Fluch? Dass nämlich die Schauspieler so viel besser sind als das Drehbuch? Bei Volker Schlöndorffs «Homo Faber» war es so. Der Film wäre nichts gewesen ohne Sam Shepard, Julie Delpy und Barbara Sukowa. In «Stiller» glänzt auch Stefan Kurt. Er spielt den Dr. Bohnenblust, seines Zeichens Verteidiger von James Larkin White alias Anatol Stiller.

Der Blick auf den Angeklagten ist hintergründig, als wäre ihm nichts Menschliches fremd, und er darf die grosse Frage stellen: «Können wir uns nicht auf eine Wahrheit einigen?» Die Wahrheit als verhandelbares Gut. So etwas kennt das Gericht sonst nicht, die Kunst aber schon. Schade, dass der Film «Stiller» für Ambivalenzen dieser Art keinen Blick hat.

Kinostart in der Schweiz ist am 16. Oktober, in Deutschland am 30. Oktober.

nzz.ch

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