Sprache auswählen

German

Down Icon

Land auswählen

Germany

Down Icon

Solange Putin an der Macht sei, werde es Krieg geben, sagt Andrey Gurkov – warum sich Russland nicht von den Fesseln des Putinismus lösen kann

Solange Putin an der Macht sei, werde es Krieg geben, sagt Andrey Gurkov – warum sich Russland nicht von den Fesseln des Putinismus lösen kann
Russland steht auf der Seite der Wahrheit und bekämpft das Böse: Die offizielle Propaganda wird mit allen Mitteln verbreitet und prägt.

Andrey Gurkov ist ungehalten. Er hat allen Grund dazu. Er wuchs in Ostberlin in einer russischen Familie auf und studierte später Journalistik in Moskau und Leipzig. Er arbeitete als Chefredakteur der deutschen Ausgabe einer russischen Wochenzeitung, dann als Russland-Redakteur der Deutschen Welle in Köln. Lange Zeit hatte er sich als Brückenbauer zwischen Deutschland und Russland verstanden. Sein neues Buch «Für Russland ist Europa der Feind» ist mehr als eine schonungslose Darstellung des Putinismus. Es ist Ausdruck seines persönlichen Entsetzens über die fatalen Fehlentwicklungen seines Heimatlands bis hin zum offenen Überfall auf die Ukraine.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Völlig korrekt beschreibt Gurkov die russische Propaganda als wirr. Der Putinismus ist aus seiner Sicht eine «krude Mischung aus zaristisch-imperialen, sowjetisch-sozialistischen, postkommunistisch-kapitalistischen und grossrussisch-nationalistischen Narrativen, aus orthodoxen Idealen, archaischen Vorstellungen, Verschwörungstheorien und einer Fetischisierung militärischer Stärke».

Gurkov merkt kritisch an, dass bei den russischen Feiern zum Jahrestag des 9. Mai 1945 nicht mehr der europäische Frieden, sondern der militärische Sieg im Zentrum stehe. Dabei zeigt sich vor allem die patriotische Populärkultur angriffig: Nach der Annexion der Krim träumte man auf bedruckten T-Shirts von der Rückeroberung Alaskas, Autokorsos forderten dazu auf, «gegen Berlin» zu ziehen, der ultranationalistische Sänger Shaman sang: «Ich bin Russe. Mein Blut ist vom Vater.»

Auch die Kirche betätigt sich als Kriegstreiberin. Gurkov hebt vor allem das «Satanismus»-Narrativ hervor, das bereits kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine auf Geheiss des Kremls in den Medien auftauchte. In Fernsehsendungen und Zeitungsartikeln wurde behauptet, in der Ukraine werde das «Böse» bekämpft, Russland stehe auf der Seite der religiösen Wahrheit.

«Frieden auf russischer Erde»

Unter «Satanismus» kann mittlerweile alles verbucht werden, was an Feindbildern in den Köpfen der Propagandisten herumspukt: der «ukrainische Faschismus», die «internationale LGBT-Bewegung», der «Ökoterrorismus» und natürlich die Nato. Es ist nur konsequent, dass in der Duma Forderungen lautwurden, den «Satanismus» als «extremistische Bewegung» zu verbieten.

In einer genauen Chronologie rekonstruiert Gurkov das Einschwenken der orthodoxen Kirche auf den Kriegskurs des Kremls. Am Abend des Überfalls am 24. Februar 2022 betete der russische Patriarch Kirill, der selbst über einen Geheimdiensthintergrund verfügt, für eine «schnelle Wiederherstellung des Friedens». Bereits drei Tage später wünschte er sich «Frieden auf russischer Erde», die für ihn selbstverständlich auch die Ukraine und Weissrussland einschliesst.

Im März 2022 sprach Kirill dann von einem «heiligen Krieg», in dem «das russische Volk mit der Waffe in der Hand seine zivilisatorische, religiöse, nationale und kulturelle Identität» verteidige. Gleichzeitig verkündete er ein radikales Kriegsziel, das nicht einmal von Putin in dieser Deutlichkeit formuliert worden war: «Nach Beendigung der militärischen Spezialoperation muss das ganze Territorium der Ukraine zur ausschliesslichen Einflusszone Russlands werden.»

Gurkov war bereits Mitte dreissig, als er sich orthodox taufen liess. Nun fragt er sich, ob dieser Entscheid falsch war. Er verweist dabei auf seine säkularisierte Familiengeschichte mit einem orthodoxen und einem jüdischen Grossvater. Gurkov bezeichnet sich als «recht typischen Vertreter der Moskauer Intelligenzija», die von der russischen Kultur mit ihrem jüdisch-christlichen Erbe geprägt sei. Seine orthodoxe Taufe versteht er heute als Bekenntnis zur westeuropäischen ökumenischen Tradition.

Ist Puschkin schuld?

Gurkov wagt auch eine Antwort auf die heikle Frage, ob der Nationaldichter Puschkin an der russischen Aggression mitschuldig sei. Kritisch reflektiert er die Puschkin-Verehrung, mit der er selbst aufwuchs. Er erinnert sich an die spontanen Gedenkrituale an Puschkins Geburtstag am 6. Juni: Zahlreiche Menschen legten am Moskauer Puschkin-Denkmal Blumen nieder und rezitierten seine Gedichte, die sie bereits in der Schule auswendig gelernt hatten.

Puschkin ist zwar in erster Linie für seine Liebeslyrik bekannt, allerdings weist Gurkov auch auf die Verherrlichung zaristischer Angriffskriege in Puschkins Gedichten hin. Gerade solche Zeilen werden vom Kreml instrumentalisiert: Im Herbst 2022 veröffentlichte das Kulturministerium einen Videoclip, in dem Aussenminister Sergei Lawrow ein Puschkin-Gedicht aufsagte, das die Niederschlagung des polnischen Aufstandes 1830 rechtfertigt.

Das Gedicht gipfelt in der Zeile: «Alle slawischen Ströme ergiessen sich ins russische Meer.» Das Video zeigt dabei die Gouverneure der vier annektierten ukrainischen Gebiete mit Putin in der Mitte. Die Zerstörung von Puschkin-Denkmälern in der Ukraine kommentiert Gurkov trocken: Nach den Kriegszerstörungen in der Ukraine zieme es sich für russische Demokraten nicht, den Ukrainern Vorwürfe zu machen, schon gar nicht in Sachen Denkmalpflege.

Ein eigenes Kapitel widmet Gurkov der Opernsängerin Anna Netrebko, der oft vorgeworfen wird, sie stehe Putin nahe. Wirklich problematisch ist in seinen Augen allerdings die Tatsache, dass sie Ende 2014 umgerechnet 15 000 Euro an das Theater im besetzten Donezk spendete und sich mit einem prorussischen Warlord ablichten liess.

Keine Chancen für die Opposition

Gurkov endet sein Buch mit einer pessimistischen Note. Solange Putin an der Macht sei, sei er überzeugt, werde es Krieg geben. Aber auch nach Putin werde sich der Putinismus in Russland halten. Zu viele Menschen hätten ihr eigenes Lebensschicksal an den Putinismus gebunden: skrupellose Geheimdienstler, korrupte Politiker, rückgratlose Richter, bellende Propagandisten – solche einflussreichen Profiteure seien lebhaft am Weiterbestehen dieses verbrecherischen Systems interessiert.

Gurkov verweist auf ein Paradox: Die russische Bevölkerung akzeptierte fast alles, was der Krieg gegen die Ukraine mit sich brachte: die höheren Konsumentenpreise, den Isolationismus, die absolute Macht des Präsidenten, die konservative Ausrichtung der Gesellschaft. Das Einzige, was die Menschen nicht annahmen, war der Krieg selbst. Deshalb versuche Putin, weiterhin sein Normalitätsversprechen aufrechtzuerhalten: Der Krieg soll das Alltagsleben in Russland nicht verändern.

Bis heute hat der Kreml der Ukraine nicht offiziell den Krieg erklärt. Zwar wünscht sich eine Mehrheit in der Bevölkerung ein rasches Ende des Kriegs – aber natürlich mit einem russischen Sieg. Gurkov weist auch auf die fehlenden Erfolgschancen für die Opposition hin, die kaum mehr auf die entpolitisierte Gesellschaft einwirken kann. Er konstatiert nüchtern, dass sich zwischen Europa und Russland ein tektonischer politischer Riss aufgetan habe, der so schnell nicht überwunden werden könne.

In der Tat teilt Putins Russland die europäischen Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten nicht mehr. Es ist nur konsequent, dass Russland im März 2022 aus dem Europarat ausgeschlossen wurde. Heute besteht keine Chance, dass Gurkovs hellsichtiges Buch auf Russisch erscheinen könnte. Dabei wäre es dringend nötig, dass es in Russland gelesen würde.

Andrey Gurkov: Für Russland ist Europa der Feind. Warum meine Heimat mit dem Westen gebrochen hat. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 282 S., Fr. 34.90.

nzz.ch

nzz.ch

Ähnliche Nachrichten

Alle News
Animated ArrowAnimated ArrowAnimated Arrow