Virginia Giuffre ist Jeffrey Epsteins berühmtestes Opfer. Ein halbes Jahr nach ihrem Suizid erscheinen ihre hinterlassenen Memoiren

Virginia Roberts Giuffre war eine der wichtigsten Zeuginnen im Missbrauchsfall um Epstein und brachte Prinz Andrew in Bedrängnis. Nun sind postum ihre Memoiren «Nobody’s Girl» publiziert worden. Das Buch ist ein erschütterndes Zeugnis.
Auf Seite 49 von «Nobody’s Girl» bittet Virginia Roberts Giuffre den Leser: «Please don’t stop reading.» Sie wisse, dass die Geschichte schwer zu ertragen sei. Bis hierhin hat sie ihre ersten elf Lebensjahre beschrieben. Es ist eine Kindheit voller Gewalt, die sie später «zum perfekten Opfer» für den mächtigen Financier Jeffrey Epstein und seine Gefährtin Ghislaine Maxwell gemacht habe. Sie unterbricht ihre Kindheitserinnerungen für einen kurzen Lichtblick, erzählt von einem Abendessen mit ihrem Mann Robbie, «halb Guru, halb Spassvogel», und den drei Kindern in Australien, ihrer Wahlheimat.
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Mit diesen vorausblickenden Intermezzi erhält der Text eine weitere tragische Dimension. Denn nach ihrem Suizid im April 2025 gibt es die geschilderte Gegenwart nicht mehr. Die familiäre Idylle, die sie sich erschrieben hat, soll ausserdem in Wirklichkeit ganz anders gewesen sein. Ein paar Wochen vor ihrem Tod berichtete Giuffre in einem Interview mit dem Magazin «People» von jahrelanger häuslicher Gewalt. Sie lebte getrennt von ihrem Mann, stritt offenbar mit ihm um das Sorgerecht, war krank und erschöpft. Nun sind ihre Memoiren erschienen, die sie 2024 fertigstellte. Sie lesen sich wie der letzte Versuch, das eigene Leben zu ordnen, bevor es endgültig entgleitet.
Auftritt des «Raubtiers»Giuffres Geschichte wurde in zahlreichen Medienberichten und Dokumentationen bereits wiedergegeben. Ihr Name steht seit Jahren im Zentrum dieses düsteren Kosmos, der den Sammelbegriff «Epstein-Skandal» trägt. Giuffre beschuldigte Epstein und Maxwell, einen Missbrauchsring mit minderjährigen Mädchen betrieben zu haben. Als eines der ersten Opfer hat sich Giuffre zu Wort gemeldet und der jahrelangen Ausbeutung ein Gesicht gegeben. Erneut liest man nun, was man längst weiss, und erst jetzt begreift man, wie wenig man verstanden hat.
Die Gewalt in den postum erschienenen Memoiren wiederholt sich alltäglich, und Giuffre beschreibt sie mit forensischer Genauigkeit. Mit sieben Jahren habe ihr Vater sie zu missbrauchen begonnen. Auch der Satz, dass er sie «einem Freund überliess», steht im Buch wie eine Axt. Der eine Bruder sei in einem Internat gewesen, der andere noch zu klein, um zu verstehen, die Mutter habe die Vorfälle ignoriert.
Giuffres Werk ist schlicht komponiert: im ersten Teil die Kindheit und frühe Misshandlungen, dann die Begegnung mit Maxwell und der Eintritt in Epsteins System. Giuffre erinnert sich an ihr Kennenlernen mit Ghislaine Maxwell in Mar-a-Lago, dem Privatklub des späteren Präsidenten Donald Trump, wo die damals 16-Jährige im Sommer 2000 im Spa-Bereich arbeitete. Es sei ihr erster Einblick in eine bessere Zukunft gewesen. Giuffre umschreibt riesige goldene Badewannen, dass es überall gefunkelt habe, als wäre die Luft selbst vergoldet. Es roch nach Lavendel und Sandelholz.
Maxwell habe sie gefragt, ob sie Masseurin werden wolle; sie kenne jemanden, der sie ausbilden könne. Ihr Vater habe sie schliesslich in die Villa von Jeffrey Epstein nach Palm Beach gefahren. Sie war entschlossen, dort alles richtig zu machen, in der Hoffnung auf eine andere Zukunft.
Epstein versprach ihr ein besseres Leben, Bildung und Reisen. Maxwell, jahrelang Epsteins Partnerin, erscheint dabei nicht als blosse Komplizin, sondern als Lehrmeisterin im Missbrauch – eine, die vertrauliche Nähe suggerierte, um Kontrolle herzustellen. «I was no expert on mothers», schreibt Giuffre, «but sometimes I imagined her as mine.» In den Erinnerungen nennt Giuffre die reiche Britin schliesslich «Raubtier», das erste Treffen «ihre Rekrutierung».
«Die Monster da draussen»Über drei Jahre hinweg habe sich Giuffre in einem Schneeballsystem sexueller Gewalt befunden, in dem junge Frauen angeworben, erpresst und weitergereicht worden seien. Giuffre schreibt auch von drei Begegnungen mit Prinz Andrew.
Sie sei siebzehn Jahre alt gewesen, als Maxwell sie dem Prinzen in London vorgestellt habe und sie angeblich von ihm missbraucht worden sei, so Giuffre. Er bestreitet sämtliche Anschuldigungen bis heute. Zum Prozess kam es nie, nur zu einer aussergerichtlichen Einigung. Kurz vor der Publikation der Memoiren wurde bekannt, dass Prinz Andrew seine letzten royalen Titel und Ehren aufgegeben hat, mutmasslich im Zuge des Skandals.
Zu Epsteins Dunstkreis gehörten Politiker, Unternehmer, Professoren, Stars. Wer Mitwisser war, wer Täter, wer bloss Zuschauer, bleibt ungewiss. Giuffre schreibt in einem rechtlich heiklen Feld. Viele der erwähnten oder angedeuteten Personen sind nie strafrechtlich belangt worden. «The monsters are still out there», hält sie fest. Was Virginia Giuffre widerfahren sein soll, basiert auf ihren Aussagen. Es gibt keine Zeugen, die ihre Geschichte stützen, nur weitere Frauen mit ähnlichen Geschichten. Manche ihrer Peiniger bezeichnet Giuffre mit den Chiffren «Milliardär 1», «Milliardär 2» und Funktionen wie «der Premier». Sie benennt Machtverhältnisse, nicht Personen – aus Angst, wie sie schreibt.
Die Flucht2002 flieht sie. In Thailand lernt sie Robert Giuffre kennen, heiratet, zieht mit ihm nach Australien, bekommt drei Kinder. Dass sie nicht mehr zurückkomme, habe sie Epstein am Telefon gesagt. Er habe «Goodbye» erwidert und aufgelegt.
Doch das Trauma blieb wie ein Echo, das jede neue Erfahrung überlagerte. Sie schreibt: «In the second part of my life I tried to recover from my first.»
Epsteins Komplizin Ghislaine Maxwell wird 2021 des «sex trafficking» mit Minderjährigen schuldig gesprochen, also des Menschenhandels zwecks Prostitution, und zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Zum Prozess gegen Epstein selbst kam es nie. Noch in Untersuchungshaft beging er 2019 Suizid. Hier lässt sich Giuffre zu Verschwörungstheorien hinreissen, die die sonst so souveräne Erzählung schwächen.
Die Wucht ihrer Schilderungen dehnt sich im zweiten Teil in die Qual der wiederholten Erinnerung: Treffen mit Anwälten, Gerichtstermine, Absprachen mit anderen Überlebenden. «My trauma reel», nennt sie das – die endlose Wiederholung der gleichen Sätze vor anderen Gesichtern. Die Öffentlichkeit rettet sie nicht, sie verschlingt sie. Die Entscheidung, vor Gericht zu gehen, habe bedeutet, Epstein und Maxwell wieder in ihr Leben zu lassen.
Giuffres Memoiren markieren keinen Wendepunkt in der Aufarbeitung des Epstein-Komplexes. Die bekannten Anschuldigungen werden nicht erweitert, sondern fixiert. Das Gedruckte konserviert, was längst öffentlich ist – aber die Vorwürfe erhalten ein Gesicht. Und sie haben die Autorität letzter Worte, das Vermächtnis eines gebrochenen Menschen.
Virginia Roberts Giuffre: Nobody’s Girl. A Memoir of Surviving Abuse and Fighting for Justice. Random House, New York 2025. 400 S., Fr. 36.90. – Die deutsche Übersetzung erscheint am 18. November bei Yes Publishing (München).
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