Wie Arvo Pärt zum Meister des Einfachen wurde – eine Hommage in der Tonhalle Zürich

Mit seinem Estonian Festival Orchestra ehrt Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi seinen Landsmann Arvo Pärt zum neunzigsten Geburtstag. Järvi zeigt dabei auch eine wenig bekannte Seite des weltweit gespielten Komponisten.
Kaupo Kikkas / Pärnu Music Festival
Onkel Arvo sorgt für volles Haus. Am frühen Sonntagabend ist die Tonhalle Zürich nicht bloss gut gefüllt, sie ist ausverkauft bis auf den letzten Platz. Es ist nicht das klassische Publikum, das sich normalerweise bei solchen Anlässen einfindet – es geht quer durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten, vom neugierigen Erstbesucher bis zum Konzertprofi ist alles dabei.
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Und noch etwas dringt sofort ans Ohr: Es wird auffällig viel Estnisch gesprochen. Kein Wunder, Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi, selber gebürtiger Este, ehrt an diesem Abend den bekanntesten Künstler des Landes, den Komponisten Arvo Pärt. Er ist so etwas wie der Nationalheilige Estlands. Zugleich gehört er seit Jahrzehnten zu den weltweit meistgespielten lebenden Komponisten.
Ein besonderer SoundPaavo Järvi dürfte ihn trotzdem «Onkel Arvo» nennen, so hat er einmal verraten; er kennt Pärt über seinen Vater Neeme, das Oberhaupt der Dirigentenfamilie Järvi, seit Kindertagen persönlich. Bei diesem Auftritt in Zürich geht es freilich nicht um private Anekdoten, sondern um eine Würdigung des erstaunlich facettenreichen Schaffens von Pärt, der im September neunzig geworden ist. Und Järvis Hommage macht klar: Das, wofür man Pärt in aller Welt kennt und schätzt, ist nur ein Teil seines Werks.
Tatsächlich kennen auch Menschen den besonderen Pärt-Sound, die mit seinem Namen nichts verbinden. Denn Pärt hat die Musik unserer Zeit, die sich lange einem überwiegend konstruktivistischen Denken verschrieben hatte, breitenwirksam gemacht. Und zwar, indem er sie für das Mystische und Meditative, ja das Archaisch-Ursprüngliche der Klänge geöffnet hat. Er bietet damit einen Anknüpfungspunkt selbst für Hörer, die sonst wenig mit zeitgenössischer Musik anzufangen wissen. Dieser äusserst suggestive, in den Abläufen stark ritualisierte Personalstil ist bei Järvis Hommage exemplarisch in Pärts Hauptwerk «Tabula rasa» zu erleben.
Der junge estnische Geiger Hans Christian Aavik und die bekannte Geigerin Midori treffen in diesem Doppelkonzert genau den eigentümlichen Schwebezustand, in dem das unablässige Wiederholen von Formeln und Sequenzen zu einem Gefühl von Zeitlosigkeit führt, das zugleich aber die Wahrnehmung jedes einzelnen Tones schärft. Die magische, teilweise esoterische oder spirituelle Wirkung hat «Tabula rasa» und viele weitere Werke, die seit 1976 im sogenannten Tintinnabuli-Stil entstanden, zu Kultstücken gemacht. Sie kommen gelegentlich sogar in der Geburts- und der Palliativmedizin zum Einsatz.
Irrwege zum EigentlichenJärvi zeigt mit dem vorzüglichen Estonian Festival Orchestra indes auch den «anderen», den nahezu unbekannten frühen Pärt. Ein durchaus zwiespältiges Erlebnis, hat Pärt doch viele seiner Stücke vor 1976 als «Irrwege» bezeichnet. Dass man sie hier dennoch einmal hören kann, ist aufschlussreich, denn mit ihrem hochexperimentellen, aber seltsam unpersönlichen Charakter zeigen etwa die «Collage über B–A–C–H» und das brachial laute, dezidiert avantgardistische Orchester-Crescendo «Perpetuum mobile» von 1963/64, wie dornenreich der Weg zum «richtigen» Pärt-Sound wirklich war.
Mit ihren detailgenauen, bis in feinste klangliche Verästelungen durchgestalteten Interpretationen machen Järvi und sein Festivalorchester noch etwas deutlich: Der spätere Pärt, wie er hier etwa auch in «La Sindone» von 2006 zu hören ist, einer berührenden Meditation über das Turiner Grabtuch, erscheint musikalisch unvergleichlich viel reicher, obwohl die Komplexität seiner Partituren abnimmt. Pärt findet das Eigentliche gerade im Einfachen und Unmittelbaren. Dies sichert ihm schon jetzt seinen Platz in der Musikgeschichte.
nzz.ch