In Istanbul befindet sich die Kunst im Ausnahmezustand

Die Gegenwartskunst hat einen schweren Stand unter dem Erdogan-Regime, leistet aber Widerstand, wo es geht. Dies zeigt die Biennale in Istanbul eindrucksvoll.
Sabine B. Vogel, Istanbul
Es hätte kaum passender sein können: Während der Eröffnungstage der 18. Istanbul-Biennale dröhnten fünf F-16-Jets in perfekter Formation über den Himmel von Istanbul. «Seit einer Woche passiert es jeden Tag», sagte die mit der Führung durch die Biennale Betraute. Sind es Luftpatrouillen infolge des israelischen Anschlages in Doha? Immerhin gilt auch die türkische Metropole als eine Basis für Hamas-Funktionäre. Oder sind es Probeflüge für die Flugshow des «Teknofest», des grössten Luft-, Raumfahrt- und Technologiefestivals der Welt, das jeweils in der Türkei stattfindet? Sie wusste keine Antwort.
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Aber es passt in die gegenwärtige Situation am Bosporus, die geprägt ist von allgegenwärtiger Verunsicherung. Unter dem Regierungspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist die Türkei auf Platz 158 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit abgerutscht. Er lässt das Land nach islamischen Grundsätzen umbauen und verbot die Pride-Parade. Trans-Rechte sollen eingeschränkt werden, LGBTQ+-Identitäten werden diskriminiert.
Der Katze fehlt ein BeinIn der Justiz herrscht Willkür, schon ein falscher Tweet kann zur Verhaftung führen, und Bürgermeister verschwinden aus fadenscheinigen Gründen hinter Gittern. Selbst Unternehmen und Stiftungen nehmen in heiklen Fragen Rücksicht auf die Regierung, um nicht in Konflikte zu geraten – wie jüngst die private Istanbul-Biennale-Stiftung (IKSV).
Ein internationales Gremium hatte 2023 die türkische Kuratorin Defne Ayas als Leiterin für die 18. Istanbul-Biennale vorgeschlagen. Die Stiftung lehnte die Wahl ab, woraufhin die Kunstszene tobte und der Stiftung Selbstzensur und Intransparenz vorwarf. Vor zehn Jahren war in einem von Ayas verantworteten Katalog vom – offiziell geleugneten – armenischen Völkermord die Rede, das Buch wurde daraufhin verboten. Letztes Jahr wurde dann die aus Beirut stammende Kuratorin Christine Tohmé berufen.
Unter ihrer Leitung eröffnete jetzt die 18. Istanbul-Biennale mit einem Jahr Verspätung – und spiegelt in vorwegnehmenden Anpassungen das Klima vorauseilenden Gehorsams wider. Zwar sprach Ömer M. Koç, Vorsitzender des Hauptsponsors Koç Holding, auf der Pressekonferenz die Konflikte an, aber nur indirekt. In Abwandlung eines Zitats von Mustafa Kemal Atatürk, dem ersten Präsidenten der Türkei, erklärte er: «Erfolge in der Kunst sind wichtig für die Zivilisation, für die nationale Reputation.»
Im anschliessenden Gespräch verwies er darauf, dass es gerade schwierig sei, weil es «am Ende des Tages um Realpolitik» gehe. Aber darin sehe er auch Herausforderungen. Ähnlich reagiert Tohmé mit ihrem Biennale-Titel: Mit «Dreibeinige Katze» wählt sie eine Metapher für Überlebensfähigkeit trotz Unvollständigkeit. «Instabilität wird ins Positive gewendet», wie sie sagt. Zwar deutet die dreibeinige Katze auch ihre Biennale-Struktur an, denn die Biennale wird mit einem zweiten, als Akademie bezeichneten Bein fortgesetzt und soll 2026 ein drittes, lokal kuratiertes Bein erhalten.
Aber vor allem bestimmen das fehlende vierte Bein und der Appell der Biennale-Leiterin, nicht aufzugeben, die Beiträge der 47 Künstler an den insgesamt acht Orten. Leise, aber unmissverständlich erzählen etwa Chen Ching-yuans akademisch anmutende Bilder mit kollabierenden Bäumen von Widerstand.
Akram Zaatari deutet den traditionellen türkischen Nationalsport des Öl-Ringkampfs in sechzehn homoerotisch getönten Acrylzeichnungen radikal um. Tief unten im Keller der Griechischen Schule thematisiert Ayman Zedani die Übersalzung des Arabischen Meeres mit Walgesängen und einem dichten Salzteppich auf dem Boden. Eindringlich sind auch die Zeichnungen von Sohail Salem, der den täglichen Horror des Gazakrieges mit wenigen Strichen in einzelnen Bildmotiven festhält.
Hatten Tohmé und auch Koç auf der Pressekonferenz den Gazakrieg direkt angesprochen, so war dazu auf der eine Woche später eröffnenden Kunstmesse Contemporary Istanbul (CI), die ein paar wenige Tage lang gegen Ende September über die Bühne ging, nichts zu hören. Aber ganz so heil war auch hier die Welt nicht, das Gesprächsprogramm hatte man unter den Titel «Disrupted Coordinates» gestellt, um über geopolitische Instabilitäten und soziale Paradigmenwechsel zu sprechen.
So heikle Aspekte wie die enorme Gentrifizierung in Istanbul kommen dabei allerdings nicht zur Sprache, obwohl die Messe in Tersane stattfindet. Das brandneue Quartier mit Luxusapartments, Hotels und einem Shopping-Zentrum direkt am Goldenen Horn entsteht auf dem Gelände einer 600 Jahre alten, ehemaligen Werft. Es soll das neue Downtown werden, ein Luxusareal. Ein Hotelier beschreibt Tersane als die «Champs-Élysées» von Istanbul – offenbar ein idealer Standort für die Kunstmesse, die dieses Jahr in Tersane von 54 320 Besuchern gestürmt wurde.
Dabei ist die Inflation noch immer immens, auch wenn offiziell von «nur» knapp 33 Prozent die Rede ist. Das Leben sei für die meisten unerträglich teuer geworden, erzählt ein Taxifahrer, Restaurants und Mieten seien kaum noch zu bezahlen. In die Hotels in Tersane bringe er vor allem russische und iranische Gäste – und während der Messetage die türkische Oberschicht.
Rund 2,4 Prozent der Istanbuler gehören zur sozioökonomischen Gruppe A+, was bei offiziell 16 Millionen Einwohnern immerhin 384 000 Menschen sind. «Wir wissen, was wir hier verkaufen können, und die Geschäfte laufen sehr gut», sagte Mark Hachem, der Galerien in Paris und New York betreibt und mit der Messe zufrieden war. Die jüngst in einem Gassenlokal in Tersane eröffnete Pilevneli Gallery weiss wohl auch, was möglich ist, wenn bei ihr prominent im Eingang ein hyperrealistisches Airbrush-Bild von Rasim Aksan hängt: eine offensichtlich homoerotische Szene in einer Bar voller fröhlicher Matrosen.
Auch das von der Vehbi Koç Foundation finanzierte Kunstzentrum Arter scheut Anspielungen auf das offiziell tabuisierte Thema nicht. Dort findet gerade die erste Personale der türkisch-österreichischen Künstlerin Nilbar Güres mit ihren wunderbaren queeren Bildwelten statt. Sie wird nächstes Jahr den türkischen Pavillon der Biennale Venedig bespielen – eine mutige Entscheidung, die einmal mehr beweist: Die türkische Gesellschaft ist krisenerfahren, ungeachtet aller Tumulte geht es immer weiter.
18. Istanbul-Biennale: bis 23. November; «Nilbar Güres», Kunstzentrum Arter, bis 12. April 2026.
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