INTERVIEW - «Wenn Sie ein Museum in Europa haben, das Gold oder Juwelen ausstellt – dann sind Sie ein Ziel», sagt der Sherlock Holmes der Kunstwelt

Chris Marinello holt gestohlene Kunstwerke zurück. Im Gespräch erklärt er, warum die Schmuckstücke nach dem Louvre-Raub wohl bereits zerlegt sind. Und was er den Behörden nun rät.

Als Sie vom Überfall auf den Louvre hörten – was war Ihre erste Reaktion?
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Ich war wütend. Wütend und schockiert, weil es wirklich eine Ohrfeige für alle war, die kulturelles Erbe schätzen. Sehen Sie, ich bin an vorderster Front dabei, weil ich jeden Tag Berichte über Diebstähle erhalte, von denen Sie nichts hören. Ich sehe diese Banden, die in kleinen Museen überall in Europa operieren und Gold und Schmuck stehlen. Indem sie den Louvre ins Visier genommen haben, zeigen diese Kriminellen, dass sie keine Angst vor der Strafverfolgung haben.
Was passiert unmittelbar nach so einem Raub – nachdem die Täter geflohen sind?
Nun, wenn Sie Kriminelle sind, müssen Sie das Diebesgut schnell zu Geld machen. Sie müssen also das, was Sie gerade gestohlen haben, zerlegen. Es aus den Fassungen nehmen, rohe Diamanten und Saphire so schnell wie möglich aus dem Land bringen – an einen Ort, der bekannt ist für Diamantenhandel: Antwerpen zum Beispiel, Tel Aviv oder Indien. Es gibt an diesen Orten Hunderte von Läden, die keine Fragen stellen.

Wie lange dauert es, solchen Schmuck zu zerlegen?
Ich habe mit einem Juwelier gesprochen. Er sagte mir, es sei nicht sehr schwierig. Tatsächlich gab es Tausende von Steinen in dieser Sammlung, die überhaupt nicht zerteilt werden müssen. Es sind nur die grösseren, die möglicherweise aufgebrochen und umgeschliffen werden müssen.
Wie gross ist die Chance, diese Schmuckstücke jetzt noch intakt zu finden?
Mit jeder Stunde, die vergeht, wird es immer unwahrscheinlicher. Ich wünschte, die Staatsanwaltschaft hätte eine Belohnung ausgesetzt. Ich wünschte, die Staatsanwaltschaft wäre ins öffentliche Fernsehen gegangen und hätte gesagt, dass die Kriminellen, wenn sie gefasst werden und die Juwelen zerbrochen haben, mit der zwei- oder dreifachen Gefängnisstrafe belegt werden.
Warum?
Um eine Botschaft zu senden, diese Stücke nicht aufzubrechen und zu zerstören. Gegenwärtig arbeiten etwa sechzig Beamte an dem Fall. Man hat auch eine israelische Ermittlungsfirma engagiert, die bereits beim Dresdner Diebstahl 2019 an den Untersuchungen beteiligt war.
Christopher A. Marinello ist Experte für die Rückgabe und Wiederbeschaffung gestohlener Kunstwerke. Der US-amerikanische Anwalt agiert als Vermittler zwischen Eigentümern, Versicherern und der kriminellen Unterwelt, um die Rückgabe solcher Objekte zu verhandeln. 2013 gründete er das Unternehmen Art Recovery International.
Aber würden die Kriminellen überhaupt auf eine Belohnung reagieren?
Man weiss es nie. Am Louvre-Raub waren vier Personen beteiligt. Vielleicht entscheidet sich einer von ihnen, die anderen drei zu verpfeifen. Kriminelle sind nicht für ihre Loyalität bekannt.
Was ist der Unterschied zwischen dem Diebstahl von Schmuck und dem Diebstahl eines Gemäldes?
Ein Gemälde ist ganz anders. Als Verbrecher müssen Sie entweder versuchen, es zu verkaufen, oder es auf den Schwarzmarkt bringen, wo es dann entdeckt und schliesslich von uns zurückgewonnen werden kann. Deshalb sind diese Schmuck- und Golddiebstähle für Kriminelle attraktiver.
Sie müssen nur das Gold einschmelzen und die Edelsteine neu schleifen.
Genau. Sie müssen sich also nicht um einen Picasso kümmern. Deshalb sehen wir nun, wie kleinere Museen in ganz Europa überfallen werden: das «Drents Museum» in den Niederlanden etwa, oder der Blenheim-Palast in England, aus dem die goldene Toilette von Maurizio Cattelan verschwand. Wenn Sie ein Museum in Europa haben, das Gold oder Juwelen ausstellt – dann sind Sie ein Ziel. Die Täter fürchten nicht einmal den Louvre. Warum also sollten sie Angst vor einem kleinen Museum oder einer Dorfkirche haben?
Klingt so, als wäre es das Einfachste der Welt, Sachen aus Museen zu stehlen.
Gegenwärtig gibt es nicht genug Geld für die Sicherheit von Museen und kulturellen Institutionen. Aber auch nicht für die Finanzierung der Strafverfolgung. Momentan denken die Kriminellen: Oh, ich nehme es mit dem Louvre auf, denn was ist das Schlimmste, was passieren kann? Ich bekomme ein paar Jahre Gefängnis. Danach habe ich das Geld und kaufe mir einen Lamborghini.
Sie arbeiten als Vermittler bei gestohlener Kunst. Art Recovery nennt sich das. Wie funktioniert Ihre Arbeit: Knüpfen Sie da Kontakte mit der Unterwelt?
Ich bin nicht die Polizei. Die Diebe oder deren Umfeld melden sich bei mir, weil sie wissen, dass ich für Versicherer arbeite. Typisch ist der Satz: «Ein Freund eines Freundes weiss, wo der Matisse ist – gibt’s eine Belohnung dafür?» Ich verlange einen Nachweis dafür, dass sie die Wahrheit sagen, und lasse die Polizei prüfen, ob der Tippgeber nicht in den Raub involviert ist.
Was passiert dann?
Wenn jemand eine legitime Quelle ist, die keine Verbindung zum Diebstahl hat, wenn sie also Anspruch auf eine Belohnung hat und die Strafverfolgung es genehmigt, läuft alles formal: Das Geld geht vom Versicherer auf mein Treuhandkonto, von dort an den Hinweisgeber. Ich sitze also nicht am Bahnhof und überreiche jemandem eine Tüte voller Geld. Wir zahlen auch kein Lösegeld.
Wie hätten Sie konkret auf den Louvre‑Raub reagiert?
Ich hätte sofort eine Belohnung ausgesetzt. Und ich hätte einen Staatsanwalt eine Nachricht an die Verbrecher aussprechen lassen: Zerstören Sie den Schmuck nicht, sonst erhalten Sie eine längere Gefängnisstrafe. Wir sollten solche Taten als kulturellen Terrorismus begreifen und ahnden – es ist ein Anschlag auf uns und auf kommende Generationen, die diese Stücke nie wiedersehen werden.
Viele Leute haben diese romantische Idee vom Kunstdieb, der von den Reichen stiehlt – trifft das zu?
Das ist völlig falsch. Es gibt keine Robin Hoods. Wir sind alle Opfer. Kunstdiebstahl ist ein Verbrechen. Wenn jemand aus dem Louvre stiehlt, stiehlt er von Millionen von Menschen.

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