INTERVIEW - «Beim Lesen geht es doch darum, einmal von seinem kleinen Ich abzusehen und sich in andere Figuren einzufühlen», sagt der Autor Michael Maar

In seinem neuen Buch macht sich Michael Maar auf die Suche nach den Details in der Weltliteratur. Entstanden ist ein vergnüglicher Geschichtenband. Warum er mit Virginia Woolf, die er verehrt, keinen Abend verbringen möchte, erklärt er im Interview.
Michael Maar ist der grosse Wünschelrutengänger der Weltliteratur. Er macht die schönsten Funde dort, wo andere noch nicht einmal auf den Gedanken kommen, genauer hinzuschauen. Im gerade erschienenen Band «Das violette Hündchen» widmet er sich unscheinbaren Details, die aber bedeutungsvoll sein können, wenn man sie wie Maar zum Sprechen bringt. Und wie in allen bisherigen Büchern brilliert Michael Maar auch hier als hingebungsvoller Geschichtenerzähler.
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Herr Maar, zu den schönsten Anekdoten in Ihrem neuen Buch zählt jene über den Herzog von Charost. Er las noch im Karren, der ihn zur Enthauptung brachte, und machte, bevor er sich unter die Guillotine legte, ein Eselsohr in die zuletzt gelesene Seite. Gehören Sie auch zu der Sorte Leser, die stets ein Buch mit sich tragen?
Es gibt sogar Zeiten, da ich überhaupt keine Lust habe, ein Buch in die Hand zu nehmen. Aber da ich seit vierzig Jahren nichts anderes tue, als zu lesen und darüber zu schreiben, ist es so sehr Teil des Alltags geworden, dass ich natürlich nie länger ohne ein Buch auskomme.
Und glauben Sie mit dem Herzog von Charost an die Vorstellung, das Lesen könnte eine lebensverlängernde Massnahme sein?
Ich bin eher frei von solchem Aberglauben. Wobei es angeblich wirklich das Leben verlängert.
Sie haben geschafft, was kaum einem anderen deutschen Autor gelungen ist: Am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat eine Richterin aus einem Ihrer Bücher zitiert.
Es war ein komplexes Verfahren in einer Plagiatsklage von Nestlé gegen Andy Warhol. Die letztlich unterlegene Richterin hat dabei aus der englischen Übersetzung meines «Lolita»-Buches zitiert.
Damit haben Sie doch eine Art Unsterblichkeit erlangt?
Leute, die sich auskennen, sagten mir, ich solle alle anderen Preise vergessen. Ich sei jetzt gleichsam Teil der amerikanischen Verfassung, die aus der Rechtsprechung des Supreme Court hervorgeht. In irgendeiner Fussnote, in irgendeinem Folianten der Supreme-Court-Akten steht jetzt mein Name. Das ist für die Ewigkeit. Und natürlich ist so etwas schmeichelhaft.
Es ging in Ihrem Buch über Nabokov darum, dass Sie vor einigen Jahren einen Vorgänger zu seinem «Lolita»-Roman entdeckt hatten.
Es war ein seltsamer Zufall, ausgelöst von meinem damals zweijährigen Sohn. Er machte in unserer Berliner Altbauwohnung ziemlich viel Lärm, weshalb wir gegenüber dem Nachbarn unter uns permanent ein schlechtes Gewissen hatten. Dann lud dieser Nachbar einmal zu einer Geburtstagsfeier ein, zu der ich nie gegangen wäre ohne dieses schlechte Gewissen. Jedoch begegnete ich da jemandem, der mir von einem Buch erzählte, das er auf einem Flohmarkt gekauft habe. Darin gebe es eine Novelle mit dem Titel «Lolita», die davon handelt, dass ein mittelalter Mann sich in ein junges Mädchen verliebt. Das kann nicht sein, sagte ich, ich kenne mich da aus. Ein paar Wochen später drückte er mir das Buch in die Hand.
Wie ging die Geschichte weiter?
Ich habe dann ein Jahr lang recherchiert, um überhaupt herauszufinden, wer der Autor ist. Und noch einmal ein paar Jahre brauchte ich, um herauszufinden, warum Nabokov ihn so ausgiebig zitiert, und zwar so, als möchte er die Spuren gar nicht verwischen, sondern geradezu offenlegen.
Was haben Sie über den Autor erfahren?
Ich fand heraus, dass die Nabokovs, die alle paar Monate in Berlin ihre Wohnung gewechselt haben, in einer Wohnung erstaunlich lang geblieben sind, nämlich drei Jahre. Sie kannten dann auch die Hauswirtin sehr gut. Nun stellte sich heraus, dass Heinz von Lichberg, der Autor dieser Ur-Lolita, verwandt war mit ihrer Vermieterin. Das heisst, Nabokov hatte Lichberg kennengelernt. Und sie haben ihre Bücher ausgetauscht. Es war kein Plagiat, Nabokov hat bei vielen Gelegenheiten auf das Vorgängerbuch aufmerksam gemacht, nur konnte ausser seiner Frau kaum jemand diese Anspielungen entziffern.
Sie erzählen zum einen Geschichten in Ihrem Buch. Zum anderen schaffen Sie Konstellationen. Beispielsweise ganz überraschend Hemingway und Proust. Hemingway beginnt in Paris «Fiesta» in dem Augenblick, als Proust die «Recherche» abschliesst. Das sind zwei Autoren, die man nicht zusammen denken würde. Wie kommen Sie darauf?
Es war kein Plan, aber ich dachte, es ist reizvoll, solche Figuren nebeneinanderzustellen. Auch Virginia Woolf und Colette, die zu derselben Zeit, jede relativ bekannt oder sogar berühmt, doch vom Kanal getrennt, über ähnliche Themen schreiben.
Solche Konstellationen öffnen auch den Imaginationsraum. Man stellt sich vor, Hemingway und Proust hätten sich in Paris begegnen können. Das wäre dann fast schon das Thema für einen Roman. In Ihrem Buch erzählen Sie ausführlicher über die Begegnung von Thomas Mann und Theodor W. Adorno. Der Philosoph verhält sich gegenüber dem fast dreissig Jahre älteren Schriftsteller mitunter geradezu unterwürfig.
Für Adorno war das beinahe ein Liebesverhältnis, wenn auch ein sehr einseitiges. Mein Essay läuft darauf hinaus, dass Adorno zu Unrecht glaubte, er sei das Modell eines der Teufel gewesen im «Doktor Faustus». In Wirklichkeit hat Thomas Mann den Teufel nach einem Porträt von Gustav Mahler gestaltet und ihm dann eine Hornbrille aufgesetzt, wie sie Adorno trägt.
Thomas Mann hielt Adorno auf Distanz. War ihm der Philosoph zu aufdringlich?
Er hat Adorno sehr geschätzt, aber er hat ihn auch benutzt. Adorno hat Leverkühns Kompositionen geschrieben, das weiss man heute. Thomas Mann hat nicht zuletzt deshalb «Die Entstehung des Doktor Faustus» geschrieben, um Adornos Beitrag zu würdigen. Danach schreibt Thomas Mann in einem Brief, dass der Scheinwerfer, den er jetzt auf Adorno gerichtet habe und in dessen Lichte sich dieser etwas unangenehm blähe, den Eindruck entstehen lassen könnte, Adorno hätte den «Doktor Faustus» verfasst. Adornos Eitelkeit hat ihn geärgert.
Adorno schreibt Thomas Mann in einem Brief, ihre Begegnung sei für ihn im theologischen Sinne eine Segnung gewesen. Ist es nicht seltsam, wenn gerade Adorno auf diese pseudoreligiöse Terminologie verfällt?
Man muss das nicht überbewerten. Die Begegnung mit Thomas Mann war für Adorno so etwas wie die Erfüllung eines Lebenstraums. Jeder Autor, jeder schreibende Mensch kennt Idole. Wobei es nicht immer ratsam ist, diese dann auch persönlich kennenzulernen.
Wie geht es denn Ihnen mit Ihren Hausgöttern? Hätten Sie Vladimir Nabokov begegnen wollen?
Wenn ich mich frage, mit wem ich gerne einen Abend verbracht hätte, dann ist es ganz sicher nicht Thomas Mann. Und auch nicht Nabokov. Auf keinen Fall wäre es Virginia Woolf. Sie hätte danach im Tagebuch hässliche Dinge über mich geschrieben. Sie konnte sehr giftig sein und war eine gnadenlose Beobachterin. Gerne einen Abend verbracht hätte ich mit Chesterton. Aber mein Englisch wäre wohl zu schlecht dafür gewesen.
Sie haben in Ihrem Enthusiasmus eine Neigung zu Superlativen. Hemingway schreibe nach Mark Twain die besten Dialoge, heisst es bei Ihnen. Wer von beiden schreibt jetzt die besten Dialoge?
Es gibt sicher noch fünf andere, die ebenso grossartige Dialoge schreiben.
Sie entwerfen den Mount Rushmore der Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie heben vier Autoren heraus, deren Monumentalbüsten nach dem Vorbild von vier Präsidenten der Vereinigten Staaten in Stein gehauen werden sollten. Ist das eine Weltmeisterschaft der Literatur?
Das sind kleine Scherze, vielleicht höhere Scherze, aber mein Pantheon der Weltliteratur ist sehr gross, da passen sehr viele Leute rein, und es gibt natürlich keine Goldmedaillen zu verteilen.
Und doch ist es bemerkenswert, wen Sie herausheben: Sie nennen William Faulkner, James Joyce, Marcel Proust und Vladimir Nabokov. Proust und Joyce leuchten ein, weil sie das 20. Jahrhundert geprägt haben wie wenige sonst. Aber Nabokov und Faulkner?
Ich kenne von Faulkner nicht das Gesamtwerk, was ich gelesen habe, hat mich ins Innerste getroffen. Aber ja, das sind Zuspitzungen. Doch es gibt Bücher, nach deren Lektüre man sich fragt, wie es danach überhaupt jemand noch einmal wagen konnte, ein Buch zu schreiben. Solche Leseerlebnisse hat man nicht sehr oft. Das passierte mir auch bei «Liebe in den Zeiten der Cholera» von Gabriel García Márquez. Aber Nabokov steht genauso einzigartig da wie Joyce. Oder Anthony Powell mit dem 12-bändigen Epos «A Dance to the Music of Time».
Ist man als Leser ein Voyeur? Sie schreiben, lieber würden Sie Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» als Thomas Manns «Zauberberg» auf die einsame Insel mitnehmen. Auch darum, weil Sie endlich herausfinden wollen, ob es nun zwischen den Geschwistern Agathe und Ulrich zum C. kommt, wie Musil sagt, zum Koitus.
Das ist ein Scherz. Den «Zauberberg» kenne ich auswendig, das ist der Grund.
Obwohl es ein Scherz ist, so signalisieren Sie dennoch ein voyeuristisches Interesse.
Mir ist es letztlich egal, was die Geschwister tun oder nicht tun. Mich beschäftigen mehr Musils Metaphern: Neun von zehn sind gut, eine verhauen. Na gut: acht.
Oder finden Sie in den Büchern sich selber, so wie es Proust gesagt hat?
Das ist ein Klischee. Und wie bei jedem Klischee hat es einen Kern Wahrheit. Natürlich liest jeder sich selber, weil jeder so liest, wie nur er oder sie eben liest. Das lässt sich nicht trennen. Aber mir sind diese egozentrischen Leser unsympathisch, die nur alles darauf abtasten, ob es ihre eigene Sphäre betrifft. Es geht doch um Empathie und also genau darum, einmal von seinem kleinen Ich abzusehen und sich in andere Figuren einzufühlen, mit denen man sonst gar nichts zu tun hat, die einem auch ganz fremd sein können. Das ist ja eine der Sinnschichten der Literatur, Interesse zu wecken für das Fremde.
Michael Maar: Das violette Hündchen. Grosse Literatur im Detail. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025. 592 S., Fr. 49.90.
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