Mit der Axt kann man eine Regierung stürzen. Aber die Freiheit gewinnt man damit nicht


Schon erstaunlich, was man alles an Stoffen und Motiven in zwei Stunden Theater laden kann! Wenn einem am Donnerstagabend im Zürcher Schauspielhaus an der Premiere von «Graf Öderland», einem Stück von Max Frisch, bisweilen fast schwindlig wird, so lässt sich das durch einen motivischen und szenischen Dichtestress erklären.
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Am Anfang war ein Fall, eine Tat, ein Mord. Der Schweizer Schriftsteller hat in der Zeitung von einem Mann gelesen, der einen anderen offenbar grundlos erschlagen hatte. Davon liess er sich zu einem Stück inspirieren, das 1951 bei der Premiere am Zürcher Schauspielhaus beim Publikum durchfiel. Bis 1961 hat Frisch es weiter bearbeitet und umgeschrieben in eine surreal-schillernde Theaterfuge mit existenzialistischem Überbau.
Graf Öderland erweist sich im gleichnamigen Stück einerseits als eine mit einer Axt bewehrte Märchenfigur. Andrerseits handelt es sich um den Spitznamen eines rebellischen Staatsanwalts, der bis zuletzt nicht sicher weiss, ob es sich bei seinem Aufstand gegen Regierung und Establishment um Traum oder Wirklichkeit handelt.
Gerührt und geschütteltWem das schon komplex genug erscheint, der hat die Rechnung ohne die Schweizer Regisseurin Claudia Bossard gemacht. Sie bereichert das Stück nicht nur durch eigene Assoziationen und Ideen, die den Text in die Aktualität rücken, sondern auch durch Witze, Pop-Songs – und nicht zuletzt durch weitere Einlassungen aus Max-Frisch-Texten.
Der erweiterte «Öderland»-Stoff wird nun nicht geradlinig, sondern sozusagen geschüttelt und gerührt auf der Bühne präsentiert, mit einem Minimum an Kulissen und Mobiliar, aber mit viel Slapstick. Einige Szenen spielen im hinteren Teil der Bühne, andere vorne, wieder andere werden bloss auf eine Wand projiziert. Oft entwickeln sich unterschiedliche Erzählstränge fast gleichzeitig. Dabei werden nicht nur verschiedene Schauplätze angedeutet, man erkennt auch wechselnde Sphären von Realität, Imagination, Traum.
Das Stück aber beginnt sehr konkret: Ein Bankangestellter (Henri Mertens), der den Hausmeister mit einer Axt erschlug, hat dem Staatsanwalt (Thomas Wodianka) seinen Mord gestanden. Sein Verteidiger (Lukas Darnstädt) sucht vergeblich nach mildernden Umständen, weil er keine Logik erkennen kann in der Tat: weder Rache noch Satisfaktion oder irgendein nachvollziehbarer Affekt.
Verständnis für den Kriminellen zeigt hingegen der Staatsanwalt. Man sieht ihn des Nachts unruhig durch sein Haus wandeln. Der Fall will ihm nicht aus dem Kopf. Im brutalen Mord glaubt er ein Signal zu erkennen oder jedenfalls den Versuch, aus der Absurdität der Wirklichkeit auszubrechen und dem schweizerischen Ödland zu entkommen, wo die Freude an der Existenz durch ein Leben im Hamsterrad unterdrückt und durch oberflächliches Vergnügen kompensiert werde.
Tatsächlich spiegeln sich in diesen Gedanken die Gefühle des Täters, der jahrelang gelitten hat unter der Last der Langeweile seines Bankschalter-Jobs. Ohne jede heroische Illusion wird er später darauf hinweisen, dass Leute wie er selbst und wie der Hausmeister offenbar nur durch einen Mord ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden könnten.
Aufstand und KonfrontationBesorgt um den Zustand des nächtlich spintisierenden Staatsanwalts, rät ihm seine Gattin (Laina Schwarz), die ein Verhältnis hat mit dem Verteidiger, zu mehr Schlaf sowie zu einem Arztbesuch. Stattdessen fällt er in eine Art somnambule Trance. Die Welt ist plötzlich von Schnee bedeckt. Der Staatsanwalt landet bei den Köhlern im Walde, wo er jene Axt in die Hand kriegt, mit der er nun selbst zum blutrünstigen Rebellen wird, zum Anführer einer landesweiten Subversion. Später in der Stadt wird er viele seiner Anhänger ins Elend führen und in den Tod.
Zuletzt kommt es zur Konfrontation des Grafen mit der Regierung. Zum Glück! Man verdankt der dramatischen Zuspitzung zum einen ein paar gewitzte Szenen – etwa diese: Während draussen die Bomben der Aufständischen detonieren, beruhigt die Innenministerin (sehr amüsant: Laina Schwarz) das Establishment über Sicherheit und Demokratie – bis sie von den Zwischenrufen eines Querulanten im Publikum unterbrochen wird. Es ist Graf Öderland.
Zum andern bietet das Finale auch Einsichten: «Wer, um frei zu sein, die Macht stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht», wird dem Staatsanwalt von einem Philosophen erklärt. Und um diesem Debakel zu entgehen, hofft er aus seinem Schicksal herauszukommen wie aus einem Traum.
Höhepunkte und VerzögerungenZwischen den Eckdaten des Aufstandes, der stets durch die Axt symbolisiert wird, sind zahlreiche kürzere und längere Anekdoten und Zwischenspiele montiert, die den Abend in eine Nummern-Show mit fliessenden Übergängen verwandeln. Man verdankt diesem Programm zwar einige Höhepunkte: So sitzt die Pointe, wenn sich die Axt in einer Rock-Performance in Wodiankas E-Gitarre verwandelt. Der Schauspieler überzeugt etwa auch als Populist im Albisgütli oder als inbrünstiger norwegischer Wilhelm Tell.
Das Publikum muss aber auch einige zahme Szenen über sich ergehen lassen, die das Stück unnötig in die Länge ziehen. Das gilt etwa für den Auftritt eines Hellsehers, eine Erfindung von Frisch selbst, der den verschwundenen Staatsanwalt suchen soll. Die Figur sorgt bloss für Verzögerung und für eine undankbare Rolle, die Steven Sowah anheimfällt. Sein schauspielerisches Talent verpufft dann gleich nochmals, wenn er neunmalkluge Fragen über Geld und Reichtum aus Frischs «Fragebogen» stellen muss. Sie sollen zum Denken anregen, verführen aber zum Dämmern.
So wirkt das Stück überladen und etwas sprunghaft. Ein paar mutige Streichungen und Kürzungen, und aus diesem etwas fahrigen «Graf Öderland» hätte ein pointierter, kurzweiliger Theaterabend werden können.
nzz.ch