Wie ein Marschflugkörper namens Flamingo den siegessicheren Putin in Bedrängnis bringen könnte


Die grosse russische Sommeroffensive hat an Schwung verloren. Sie wird noch eine Weile weitergehen, bis die letzten grünen Blätter von den Bäumen gefallen sind, und dann werden ukrainische Drohnen alle Russen finden, die sich in den Waldgürteln versteckt halten. Ein paar Saboteure werden immer noch versuchen, durch Abwasserrohre nach Pokrowsk zu kriechen oder ein oder zwei Häuser am nördlichen Rand von Kupjansk zu erobern, aber das wird bis zum Frühjahr wohl alles gewesen sein.
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Der Ring der verbrannten Erde, wo einst Städte blühten und Dörfer gediehen, ist ein wenig breiter geworden, aber die Russen konnten nichts Bedeutendes erobern. Genauer gesagt, konnten sie kein Gebiet erobern, auf dem einst etwas Bedeutendes stand, denn alles, was sie erobern, wird durch den Kriegsschredder gejagt. Um die David-Statue aus der Galleria dell’Accademia in Florenz zu stehlen, würden sie Michelangelos marmornes Meisterwerk mit Hämmern zu Splittern und Staub zerschlagen und den Trümmerhaufen dann in Säcken wegschaffen.
Wir haben gerade eine weitere Terrornacht überstanden. Ein Weltrekord: 818 Drohnen und Raketen. In Kiew wurde eine Mutter zusammen mit ihrem Baby getötet, das nur sechzig Schreckenstage und Schreckensnächte auf diesem Planeten gelebt hatte – offenbar hielten die Russen den Knaben für einen getarnten Nato-Offizier. Wohnhäuser brennen. Ein Reitklub wurde angegriffen, und Pferde liegen blutüberströmt über den Sandplatz verstreut. In Kiew steht das Gebäude des Ministerkabinetts in Flammen – nicht einmal die amerikanischen Patriots vermochten es zu schützen.
Dieser Teil der grossen russischen Offensive – der vom Willen zur Auslöschung der Zivilbevölkerung kündet – ist noch nicht vorbei. Ganz im Gegenteil.
Spuren von FolterAm östlichen Rand von Charkiw steht ein neues Gebäude. Die Tristesse der kastenartigen Architektur wird durch eine naive Wandmalerei etwas aufgehellt: Ein als Baumstamm bemaltes Abflussrohr treibt lange grüne Äste aus, die sich über alle sechzehn Fensterreihen ausdehnen. Grüne und weisse Vögel, darunter eine kanonische Friedenstaube, fliegen zu den Ästen empor. Ein verblasster gelber Fleck unter dem Dach zeigt offenbar die Sonne. Das Ganze strahlt etwas sehr Kindliches und Aufrichtiges aus. Es gibt nur ein einziges solches Haus in der Stadt. Oder besser gesagt: Es gab.
Bei einem Angriff auf Charkiw trafen unlängst sechs Shaheds dieses Gebäude. Sie flogen aus verschiedenen Richtungen an, krachten in die Wände, durchbrachen sie und explodierten im Inneren, wobei sie das Interieur zerstörten und Menschen wie Blumen niedermähten. Die Druckwelle war so stark, dass die Fenster unseres Hauses, das einen halben Kilometer entfernt liegt, zerbrachen. Sie riss zuerst die Moskitonetze von den Fenstern und brachte dann die Scheiben zum Zerspringen. Das Glas fiel sofort auf den Asphalt, während die Netze noch eine Weile wie graue Rosenblätter in der perlweissen Luft des frühen Morgens schwebten.
Als Reaktion auf all diese Barbarei greift die Ukraine weiterhin hartnäckig die Ölraffinerien des Feindes an. Die Ukraine bombardiert keine Krankenhäuser und keine Kinderspielplätze. Ukrainische Chirurgen nehmen keinen Lötkolben zur Hand, um patriotische Slogans auf die Bäuche von Gefangenen zu brennen – damit diese trotz Spuren schrecklicher Folter dann später schamlos zum Austausch übergeben werden können.
Kriegsgefangene, die nach Russland heimkehren, sehen nicht aus wie Buchenwald-Häftlinge. Keiner kehrt mit herausgeschnittenen Augen und entfernter Luftröhre, mehreren Knochenbrüchen, Messerwunden und Spuren von Elektroschockfolter zurück – das haben die Russen der ukrainischen Journalistin Wiktoria Roschtschina angetan, einer 26-jährigen jungen Frau. Sie töten Menschen, während wir Fabriken zerstören.
Die Ukraine kämpft zivilisierter, denn in diesem Krieg steht sie auf der Seite der Zivilisation. Der Verlust von Menschenleben ist das, was die Ukraine am meisten schmerzt. Was dagegen den Russen am meisten weh tut, sind Schläge gegen die Ölindustrie, mit deren Erträgen sie den Krieg am Laufen halten. Dagegen erscheint ihnen der Wert von Menschenleben, der eigenen oder jener des Feindes, vernachlässigbar.
Symmetrie sieht anders aus.
Schneller zerstört als repariertDie erfolgreichen ukrainischen Angriffe auf russische Ölraffinerien markieren eine tektonische Verschiebung im Krieg, einen Riss im Fundament von Putins «Sonderoperation». Laut Schätzungen hat die Ukraine im August zwischen 17 und 25 Prozent der gesamten russischen Raffineriekapazitäten lahmgelegt. Anfang September liessen die Angriffe nach, aber das lag daran, dass es im Umkreis von tausend Kilometern um die Ukraine herum kaum mehr intakte Ölraffinerien gibt. Tatsächlich sind nur noch die Raffinerien in Nischnekamsk, Tuapse und der Region Moskau übrig, aber Letztgenannte ist sehr gut geschützt. Beschädigte Raffinerien werden repariert, erneut zerstört und wieder repariert. Es besteht die Hoffnung, dass sie schneller zerstört als repariert werden können.
Laut Statistiken des russischen Finanzministeriums sind die russischen Öl- und Gaseinnahmen im August 2025 im Vergleich zum Vorjahr um 25,2 Prozent gesunken. Der Chef der russischen Sberbank sprach von einer «technischen Stagnation», was im Klartext nicht weniger bedeutet, als dass das russische Wirtschaftswachstum zum Stillstand gekommen ist.
Die Benzinpreise in Russland sind im Laufe des Jahres um 18 Prozent gestiegen, was unweigerlich zu allgemeinen Preissteigerungen führen wird. Dies wird die Unzufriedenheit in der Bevölkerung schüren, aber es wird immer noch genug Treibstoff für die Bedürfnisse des Krieges geben. Diktatoren kümmern sich nie um den Unmut im Volk.
Es scheint jedoch, dass sich Putin bös verkalkuliert hat. Die Russen beginnen offenbar zu verstehen, dass der Krieg auch für sie eine wachsende Misere bereithält. Mit dem Resultat, dass immer weniger bereit sind, den Krieg zu unterstützen oder gar an die Front zu ziehen.
Während im 4. Quartal 2023 mehr als 200 000 Personen Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium unterzeichnet haben und im 4. Quartal 2024 mehr als 150 000, waren es im 2. Quartal 2025 nur noch 37 900. Was heisst, dass die russische Armee schrumpft – und höchstwahrscheinlich weiter schrumpfen wird. Es gibt immer weniger «Fleisch», um die Schützengräben zu füllen. Und die Bereitschaft, eigene Soldaten durch den Fleischwolf zu drehen, war Russlands einziger ernstzunehmender Vorteil in diesem Krieg.
Viele russische Ölraffinerien fühlen sich jedoch nach wie vor geschützt, da sie weit entfernt von der Grenze zur Ukraine liegen: die Antipinsky-Raffinerie, jene von Baschneft, die Orsky-Raffinerie etwa. Oder besser gesagt, sie durften sich bis zum 17. August sicher fühlen, bis die Nachricht die Runde machte, dass bald ein neuer ukrainischer Marschflugkörper namens Flamingo mit einer Reichweite von 3000 Kilometern und einem Sprengkopf von mehr als einer Tonne in Serienproduktion gehe. Diese intelligenten Waffen können nicht nur den Ural und Sibirien erreichen, sondern bei Bedarf sogar Iran.
Der Flamingo ist zudem günstig, und es wird versprochen, dass monatlich 200 Stück davon produziert werden, was eine Menge ist. Der Marschflugkörper ist schwer, nicht besonders schnell und wohl auch nicht sehr manövrierfähig. Er wird der russischen Flugabwehr ein gutes Ziel abgeben, aber Tatsache ist auch, dass diese umso schwächer wird, je weiter man sich von Moskau entfernt. Einen wirksamen Schutz gibt es nur über der Front und über den grossen russischen Städten. Russland ist ein riesiges Land, und es ist recht einfach, eine Angriffsroute über seine Weiten so zu wählen, dass die Flugabwehr davon nichts mitbekommt. Selbst wenn einige Flamingos abgeschossen werden, vermögen jene, die ihre Ziele erreichen, die gesamte kriegswichtige russische Logistik jenseits des Urals zu zerstören.
Was die Cruise Missile nicht soll, ist, Städte zu terrorisieren. Es ergibt auch militärisch keinen Sinn, Flamingos gegen Moskau oder St. Petersburg fliegen zu lassen – sie werden ohnehin abgeschossen und richten dabei möglicherweise Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung an. Ich hoffe, dass die ukrainische Führung klug genug ist, die Flamingos da einzusetzen, wo Russland am verwundbarsten ist: gegen Waffenlager, Sprengstoff- und Drohnenfabriken, Eisenbahnbrücken und Züge, die Militärhilfe aus Nordkorea transportieren. Und gegen Ölraffinerien, Ölterminals und Pipelines: Wenn die Pipelines unterbrochen sind, werden die Russen die Ölfelder schliessen müssen.
Es gab bereits einen Gruppenstart von Flamingos auf Ziele in Russland. Um ehrlich zu sein, war ich enttäuscht. Drei riesige Detonationen zerstörten ein paar Boote auf der Krim. Das war, als würde man mit Kanonen auf Spatzen schiessen. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um einen Test. Bis zum Beginn des Winters wird es viele Flamingos geben, und dann werden wir sehen, was sie wirklich können – wenn sie in Schwärmen fliegen, zusammen mit Lockvögeln und Angriffsdrohnen. Zumindest einige von ihnen werden ihre Ziele erreichen, die Tausende von Kilometern tief im russischen Territorium verborgen sind. Sie werden nicht wahllos Städte und Städter treffen, wie die Russen in der Ukraine das tun. Die beste Vergeltung für die Tötung ukrainischer Zivilisten ist die Zerstörung der russischen Öl- und Militärinfrastruktur.
Fenster zum GulagWas kann und wird Russland unternehmen, wenn der Unmut in der eigenen Bevölkerung wächst? – Das Einzige, was jede Diktatur zu tun in der Lage ist: Zuerst vernichtet sie die Unzufriedenen, dann diejenigen, die unzufrieden sein könnten, dann diejenigen, die nicht zufrieden genug sind, und schliesslich gar die Zufriedenen – damit allenthalben Angst herrscht und sich niemand mehr sicher fühlen kann. Putin verfügt über genügend Macht, um dies zu tun. Es ist unwahrscheinlich, dass er zur Vernunft kommt.
Russland ist bereits aus der Europäischen Konvention gegen Folter ausgestiegen, und zwar nicht, um ukrainische Kriegsgefangene zu quälen, sondern um freie Hand gegen die eigene Bevölkerung zu haben. Der Kreml lässt auf Smartphones bereits eine neue nationale Messenger-App namens MAX installieren, die nicht deaktiviert werden kann und für flächendeckende Überwachung sorgt. Bald wird jeder Russe sein Fenster zum Gulag in der Tasche tragen und in seiner Wohnung mit mehreren KGB-Agenten persönlich verkehren. Orwells literarische Phantasie vom «Grossen Bruder», der einen ständig beobachtet, wird in Putins Russland Wirklichkeit werden.
Charkiw, das zu Beginn des Krieges verlassen war, füllt sich wieder mit Menschen. Aber es ist eine ganz andere Bevölkerung – es sind Flüchtlinge von der Frontzone, die sich der Stadt langsam annähert. Wir haben jetzt neue Nachbarn: eine Familie aus dem Donbass. Sie sprechen alle überraschend korrektes Russisch, ganz ohne ukrainischen Akzent. Sie sind die Menschen, die Putin beschützen wollte und die, nachdem sie ihre Heimat verloren haben, vor ihrem Retter fliehen wie vor der Pest.
«Es wird etwas passieren, aber sie sind noch nicht bereit. Aber es wird etwas passieren.»
«Es wird enden. Es wird enden. Plötzlich wird sich alles zusammenfügen, wir werden sehen.»
«Er wird so eine Entscheidung treffen, so oder so. Wie auch immer diese ausfällt, wir werden entweder glücklich oder unglücklich darüber sein.»
Ich frage mich, warum Franklin Delano Roosevelt 1941 nicht dasselbe über Hitler gesagt hat, was Trump heute über Putin zu wissen wähnt. Wahrscheinlich, weil Amerika jetzt den besten aller möglichen Präsidenten hat und Roosevelt im Vergleich dazu Mittelmass war. Aber jeder kann sich Fotos dieser beiden Präsidenten ansehen, ihre Gesichter vergleichen und ihre Intelligenz in den Augen abschätzen – und seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen.
Was wäre, würde ein Arzt sich so über einen bösartigen Tumor auslassen? Oder ein Feuerwehrmann über ein Haus, das lichterloh in Flammen steht?
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.
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