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Europas Kulturerbe: Die schleichende Enteignung durch Kunstraub

Europas Kulturerbe: Die schleichende Enteignung durch Kunstraub

Im ersten Teil dieses Beitrags ging es um den dramatischen Anstieg organisierten Kunstraubs in Europa. Clans und internationale Banden haben Schätzungen zufolge seit 1990 über 50.000 Kunstwerke im Milliardenwert gestohlen. Mangelnde Sicherheit, geringe Aufklärungsquoten und politisches Schweigen fördern diese Entwicklung.

Angesichts des Raubzugs gegen europäische Kulturgüter versagt nicht nur die Politik. Auch die Kunstwelt selbst trägt eine Mitverantwortung. Der Kunstmarkt, der 2023 noch ein Volumen von 65 Milliarden Euro erreichte, operiert in weiten Teilen in einer rechtlichen Grauzone. Die Provenienz – die lückenlose Herkunftsgeschichte eines Kunstwerks – spielt zu oft keine Rolle, solange nur der Preis stimmt.

Die EU-Verordnung 2019/880, die seit Juni 2025 ein elektronisches Importlizenz-System für Kulturgüter vorsieht, ist ein Fortschritt. Doch Experten wie Professor Noah Charney vom Institute for Art and Law kritisieren die Regelung als unzureichend.

Denn die Verordnung gilt nur für Importe von außerhalb der EU, nicht für den Handel innerhalb des Binnenmarktes. Es ist so etwas wie eine Bolkestein-Richtlinie für Hehler. Zudem sind die Strafen bei Verstößen lächerlich gering im Vergleich zu den Gewinnmargen im illegalen Kunsthandel.

Technologie gegen Kunstdiebstahl: Revolution gescheitert

Während Banken Millionen in KI-gestützte Sicherheitssysteme investieren und inzwischen fast jeder Supermarkt über hochauflösende Überwachungskameras und elektronische Warensicherung verfügt, leben viele Museen sicherheitstechnisch noch im 20. Jahrhundert – wenn überhaupt. Die Sicherheit in Museen verbessern – das bleibt eine der dringendsten Aufgaben.

Die British Museum Review legte im Dezember 2023 nach einem Skandal um über 2000 intern gestohlene Objekte die Defizite schonungslos offen. Das Museum hatte nicht einmal eine vollständige digitale Inventarliste seiner acht Millionen Objekte.

Sicherheitskameras deckten nur 43 Prozent der Ausstellungsräume ab. Es gab keine regelmäßigen Inventurprüfungen. Der Dieb, ein langjähriger Kurator, konnte über Jahre hinweg Objekte einfach mitnehmen und auf Ebay verkaufen.

Effiziente Technologie existiert

Dabei existieren längst Technologien, die Museen zu Hochsicherheitszonen machen könnten: KI-gestützte Verhaltensanalyse, die verdächtige Bewegungsmuster erkennt. So ein System wird derzeit etwa bei der Ostdeutschen Eisenbahn GmbH auch im Berlin-Brandenburger Raum getestet.

Oder Blockchain-basierte Provenienz-Nachweise, die Fälschungen und Hehlerei unmöglich machen. Oder Nano-Tracker in Kunstwerken, die eine Ortung auch Jahre nach einem Diebstahl ermöglichen.

Doch die Implementierung scheitert am Geld. Während der Louvre ein Jahresbudget von mindestens 250 Millionen Euro hat, eher mehr, denn es gibt gerade umfassende Reformen in Paris, fließen davon offenbar nur drei Prozent in die Sicherheit – bei einem Sammlungswert von geschätzten 35 Milliarden Euro.

Der kulturelle Aderlass Europas: Folgen von Kunstraub

Was bedeutet dieser systematische Kulturraub für Europa? Es ist mehr als der Verlust von Objekten. Es ist ein Angriff auf die europäische Identität selbst.

Wenn Juwelen aus dem Grünen Gewölbe, Symbole sächsischer Handwerkskunst und barocker Pracht, in privaten Tresoren verschwinden oder in Schraubstöcken zerquetscht werden, dann verliert nicht nur Dresden einen Teil seiner Geschichte. Europa verliert Stück für Stück die materiellen Zeugnisse seiner Zivilisation.

Verlust von Geschichte

Ein Volk ohne Zugang zu seiner Kunst ist ein Volk ohne Seele. Und in der Tat: Wenn dieser Zugang durch kriminelle Netzwerke gekappt wird, wenn Kunstwerke aus dem öffentlichen Raum in private Bunker wandern, dann findet eine schleichende kulturelle Enteignung statt.

Die Zahlen sind alarmierend. Die größte öffentlich zugängliche Datenbank für gestohlene Kunst ist die Interpol-Datenbank, die schon im Jahr 2023 etwa 57.000 registrierte Objekte erfasste.

Die private „Art Loss Register“-Datenbank enthält weltweit über 700.000 Einträge, bezieht sich jedoch nicht nur auf Europa und umfasst neben Kunstwerken auch Antiquitäten und Sammlerstücke.

Die Dunkelziffer liegt vermutlich höher, da viele Diebstähle aus Privatsammlungen oder Kirchen gar nicht gemeldet werden. In Italien verschwinden jährlich Tausende Kunstwerke aus Kirchen – oft sakrale Kunst, die seit Jahrhunderten zur lokalen Identität gehört.

Lösungen gegen Kunstraub: Was getan werden muss

Die Lösungen liegen auf der Hand, doch ihre Umsetzung scheitert an einer Mischung aus Geldmangel, bürokratischer Trägheit und politischer Verzagtheit.

Es gilt, die Sicherheit in Museen zu verbessern. Museen brauchen eine massive Aufrüstung ihrer Sicherheitssysteme. In Expertenkreisen kursiert eine geschätzte Investitionssumme von zwei Milliarden Euro.

Museen sollten ab einer bestimmten Wertsumme verpflichtet werden, eine definierte Marge wie fünf Prozent des Budgets in Sicherheit zu investieren. Das ist keine Militarisierung der Kultur, sondern schlichte Notwendigkeit. Im Fall des Louvre aber sind die Sicherheitskosten ein flexibler und daher stets von Kürzungen gefährdeter Posten.

Spezialisten bei der Polizei: Italien macht es vor

Auch die Strafverfolgung muss internationalisiert und spezialisiert werden. Italien macht es vor: Die Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale, gegründet 1969, umfassen nach Angaben von Fachportalen mindestens 300 Spezialisten, die ausschließlich Kunstkriminalität bekämpfen. Sie haben seit ihrer Gründung über eine Million Kunstwerke sichergestellt. Deutschland hat dagegen nur wenige Vollzeitstellen beim BKA für diesen Bereich, Frankreich ein paar mehr, aber längst nicht genug.

Zudem müssen Täterstrukturen klar benannt und konsequent zerschlagen werden. Wenn nachweislich Clan-Strukturen oder organisierte Banden aus bestimmten Regionen überproportional an Kunstdiebstählen beteiligt sind, dann ist es keine Diskriminierung, sondern Tatsachenbeschreibung, wenn man das benennt.

Die Berliner Polizei hat nach jahrelangem Wegschauen begonnen, gezielt gegen kriminelle Clan-Strukturen vorzugehen. Die Razzien, Vermögensbeschlagnahmen und Strukturermittlungen zeigen Wirkung. Dieses Modell muss europaweit Schule machen.

Illegalen Kunsthandel wirksamer bekämpfen

Außerdem braucht der Kunstmarkt radikale Transparenz. Galerien und Auktionshäuser, die gestohlene Kunst handeln, sollten nicht nur zivilrechtlich haften, sondern strafrechtlich verfolgt werden. Die Schweiz, deren „Freihäfen“ als Drehscheibe des illegalen Kunsthandels gelten, muss endlich gezwungen werden, ihre Zollfreilager für internationale Ermittler zu öffnen. Die internationale Zusammenarbeit und eine konsequente Provenienzforschung gestohlener Kunst sind unerlässlich, um die Bekämpfung des illegalen Kunsthandels voranzutreiben.

Es gibt nähere Beispiele des Kontrollverlustes und der mutmaßlichen Hehlerei: In einem Traditionsauktionshaus in Berlin wurden vor wenigen Jahren Regierungsdokumente aus dem Jahr der kubanischen Revolution versteigert, obwohl diese Dokumente mit der Signatur Fidel Castros dort nach kubanischem Recht gar nicht hätten auftauchen dürfen.

Und schließlich müssten die diplomatischen Beziehungen zu Staaten, die als Absatzmärkte für Raubkunst fungieren, genutzt werden. Wenn russische Oligarchen oder Golfstaaten-Prinzen europäische Raubkunst horten, dann sollte das Konsequenzen haben – von Visa-Restriktionen bis zu Wirtschaftssanktionen.

Die Stunde der Entscheidung

Europa steht an einem Wendepunkt. Entweder es nimmt den Schutz seines kulturellen Erbes endlich ernst oder es akzeptiert, dass seine Museen zu Selbstbedienungsläden für internationale Verbrechersyndikate werden. Der Louvre-Einbruch vom Oktober 2025 sollte der letzte Weckruf sein.

Die Alternative ist düster: eine Zukunft, in der Museen zu Hochsicherheitstrakten werden, in denen Besucher Kunstwerke nur noch hinter Panzerglas und unter Bewachung bewaffneter Sicherheitskräfte betrachten können. Oder – schlimmer noch – eine Zukunft, in der die bedeutendsten Werke europäischer Kunst in den Privatbunkern von Oligarchen und Kriegsgewinnlern verschwinden, für immer verloren für die Öffentlichkeit.

Die französische Résistance hatte während der deutschen Besatzung einen Slogan: „Ils ne passeront pas“ – Sie werden nicht durchkommen. Heute braucht Europa einen ähnlichen Geist der Entschlossenheit im Kampf gegen die Kulturräuber.

Berliner-zeitung

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