Stalingrad | Niemand verlangt nach Großdeutschland
Die Schlacht um Stalingrad dauerte lang, denn die von der Roten Armee eingekesselten deutschen Soldaten wurden von Hitler zum Durchhalten verpflichtet. »Männer verwandeln sich in Leichen. Das ist nicht ungewöhnlich und ist nicht widernatürlich. Das kommt vor im Zuge politischer und kriegerischer Veränderungen ... Aber deine im Stalingrader Steinbruch hingekegelten Männer – es ist doch so, dass selbst die Erde sich ihnen versagt und dass Elstern ihre Augen, ihre Herzen, ihre Gedärme wegtragen –, was zementieren sie, das ist die Frage. Großdeutschland! Großdeutschland an der Wolga –… ist das Land der Slawen etwa eine wohlfeile Menschenplantage … Ein sich über den Osten erstreckendes und bis zur Wolga ausspannendes Großdeutschland, niemand verlangt danach und niemand braucht es … selbst Deutschland braucht es nicht.«
Starke Worte, eindrückliche Szenen in »Stalingrad«, dem monumentalen Roman von Theodor Plievier, der 1945 in Deutschland nach dem Krieg erschien, nachdem er zuerst 1943/44 in Moskau in der deutschsprachigen Exilzeitschrift »Internationale Literatur« erschienen war. Um ihn zu schreiben, konnte Plievier mit gefangenen deutschen Soldaten sprechen. Es war der erste Roman über den Untergang der sechsten deutschen Armee in Stalingrad. Während heute wieder von einem bevorstehenden Krieg mit Russland geredet wird, als solle diese Niederlage von einst wettgemacht werden, erscheint in einer Neuausgabe des Aufbau-Verlags die letztgültige Fassung des Autors, um uns daran zu erinnern, was Krieg bedeutet.
Carsten Gansel, der schon 2016 mit einer Neuausgabe von Heinrich Gerlachs Roman »Durchbruch bei Stalingrad« international für Aufsehen sorgte, erhellt in seinem Nachwort Zusammenhänge, die bislang kaum bekannt gewesen sind. Nach dem Krieg ging Plievier in die SBZ und arbeitete unter anderem für den neugegründeten Kulturbund. Warum wusste ich so wenig von diesem Autor? Weil er im Herbst 1947 von einer Vortragsreise durch Westdeutschland weggeblieben war. Wie oft in derlei Fällen wurde danach nicht mehr groß über ihn geredet. Und als mir Hermann Kant erzählte, er habe 1956 seine Diplomarbeit über den Roman »Stalingrad« geschrieben, merkte ich nicht auf. Dass Kant 1984 mit einem lobenden Nachwort für eine späte Rehabilitierung des einstigen Bestsellers gesorgt hatte, erfahre ich jetzt erst von Carsten Gansel.
In ausführlichen Recherchen folgt er dem Lebensweg des Autors, der auf der Ausbürgerungsliste der Nazis gestanden, 1935 am Allunionskongress der Sowjetschriftsteller teilgenommen, eine Zeit lang in der Wolgadeutschen Republik gelebt und aus nächster Nähe erfahren hatte, was stalinistischer Terror bedeutete – dem 70 Prozent der deutschen Exilanten zum Opfer fielen, wie ich hier lese. Auch dass die Zentrale der Komintern im baschkirischen Ufa stationiert war, wo Plievier für sowjetische Rundfunksender arbeitete. Fälschlicherweise dachte ich ja immer, er sei Augenzeuge der Schlacht um Stalingrad gewesen. Den Roman lesend, hat man daran auch keine Zweifel, weil niemand sich so viele Einzelheiten ausdenken könnte. Aber er hat sehr genaue Erkundigungen eingezogen, mit vielen Augenzeugen gesprochen. »Ungeheuerlich die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, ungeheuerlich auch das Einfühlungsvermögen, die scharfe Intelligenz, die beim zweiten Wort schon das Wesentliche erfasste, die Zähigkeit und Genauigkeit seines Arbeitens«, schreibt Gansel.
»Soldaten sind Mörder«, schrieb einst Kurt Tucholsky. Täter, ob freiwillig oder unter Zwang. Doch wie auch immer, und sei es durch Propaganda, sie werden auch zu Opfern einer Kriegsmaschinerie gemacht, zum Schlachtvieh für fremde Interessen. Minutiös beschreibt Theodor Plievier den Untergang einer Armee als Wende im Zweiten Weltkrieg, noch bevor die West-Alliierten eine zweite Front gegen Nazideutschland eröffneten. »Von nun an war es die Rote Armee, die die Oberhand hatte. Nach Beendigung der Kampfhandlungen am 2. Februar 1943 gerieten innerhalb weniger Tage 91 000 Mann in Kriegsgefangenschaft.« Sterberate 90 Prozent – auch das wird hier nicht verschwiegen. Plievier selbst stellt die haarsträubenden Vorgänge vor uns hin, ohne sie zu kommentieren. Ein großes, ein bleibendes Werk der Antikriegsliteratur.
Theodor Plievier: Stalingrad. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau-Verlag, 624 S., geb., 30 €.
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