INTERVIEW - «Linke sind oft viel dogmatischer und ausschliessender», sagt Autorin Rachel Kushner


Gabby Laurent / Rowohlt-Verlag
Das neue Buch der amerikanischen Autorin Rachel Kushner handelt von einer Agentin, die eine radikale Gemeinschaft von Umweltschützern in Frankreich infiltriert. Sie ist von einem Konzern angeheuert worden und soll herausfinden, ob die sogenannten «Moulinards» Terroraktionen planen. Mit dem Roman «See der Schöpfung» traf Kushner zu ihrer eigenen Überraschung offenbar den Zeitgeist. Das Buch der 56-Jährigen wurde zu einem grossen Erfolg und landete sogar auf der Shortlist für den Booker-Preis.
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Seit «Creation Lake» letzten August erschien, waren Sie dauernd unterwegs, mit Lesungen rund um die Welt. Schreiben ist ein einsames Handwerk, aber inzwischen führen Sie ein Leben wie ein Pop-Star auf Tournee.
«Einsam» klingt schlimm. Man ist allein beim Schreiben, und das liebe ich. Monatelang baute ich diese Parallelwelt auf, grub von meinem Büro aus einen Stollen tief in die Erde. Man weiss ja nie, ob es funktioniert, aber als «See der Schöpfung» endlich Fahrt aufnahm, habe ich es genossen. Ich hätte nicht geglaubt, dass ein Buch über Anarchisten und Neandertaler so populär wird. Nun gehört die Öffentlichkeitsarbeit halt zu meinem Beruf.
«Flammenwerfer» (2013) handelt von radikalen Linken im Italien der siebziger Jahre, «See der Schöpfung» spielt unter militanten Ökoaktivisten in Frankreich. Warum faszinieren Sie radikale Gruppierungen?
Ich wurde 1968 geboren. Meine Eltern waren etwas zwischen Beatniks und Hippies. Ich ging auf eine antiautoritäre Schule in Oregon, wo jeder tun und lassen konnte, was er wollte. Für mich war das super, für andere weniger. Ich schreibe einfach über Welten, die ich kenne – und traf mit dem Buch offenbar den Zeitgeist.
Inwiefern, glauben Sie, haben Sie mit dem Roman einen Nerv der Zeit getroffen?
Im Roman gibt es diesen Satz von Bruno: «Aktuell steuern wir in einem funkelnden, führerlosen Wagen auf die Auslöschung zu, und die Frage ist: Wie steigen wir da aus?» Das ist unsere Lage. Aber ich habe auch keine einfache Antwort.
Bei der Lektüre habe ich mich gefragt, was Sie eigentlich über diese Gegenkulturen denken. Im Buch gibt es viele spöttische Bemerkungen und Beobachtungen über das soziale Experiment der französischen Ökos.
Ja, aber man darf nicht vergessen, dass sie von Sadie stammen, die die Gruppe im Auftrag eines Konzerns infiltriert, um sie letztlich zu zerstören. Sie bemerkt, wie konservativ und borniert die «Alternativen» zum Teil sind, aber sie tut dies auch zu ihrer Entlastung, damit sie ihr Tun rechtfertigen kann. Der geistige Führer der Kommune, der Eremit Bruno, ist ihr Antipode. Er glaubt nicht, dass sich der Kapitalismus mit politischen Aktionen überwinden lässt. Seine Überlegungen gehen viel weiter. Er denkt über die Urgeschichte des Menschen nach und fragt sich, wo die Evolution falsch abgebogen ist.
Sie sind früher illegale, gefährliche Motorradrennen auf Salzseen gefahren, was Sie in «Flammenwerfer» und der Essaysammlung «Harte Leute» (2021) beschreiben. Ist die hartgesottene Sadie Ihnen selbst nachempfunden?
Nichts könnte falscher sein. Ich stehe nie auf der Seite der Autoritäten. An einer Stelle im Buch prahlt Sadie, sie räume ihren Müll nicht weg, weil sie sowieso nie zwei Mal an denselben Ort zurückkehre. Aber für mich hat das Leben eine Bedeutung, weil alles, was ich tue, wichtig ist. Warum sollten wir andernfalls überhaupt existieren?
Welcher Figur im Buch fühlen Sie sich am nächsten?
Alle haben mit mir zu tun, insofern ich sie kreiert habe. Aber am nächsten steht mir Bruno. Es ist ja paradox: Sadie bewegt sich unter all diesen Leuten, ist aber einsam. Niemand kennt sie, nicht einmal Lucien, mit dem sie eine Beziehung eingeht, um sich Eintritt in die Kommune zu verschaffen. Bruno hingegen lebt allein unter der Erde, fühlt sich aber mit allen Menschen aus der Vergangenheit und der Zukunft verbunden.
Wäre es eine Überinterpretation, zu sagen, dass es bei der Begegnung zwischen der amerikanischen Agentin und der französischen Landkommune auch um eine Konfrontation zwischen den USA und Europa geht?
Es geht um Spaltungen, die sich ebenso innerhalb Europas und Amerikas auftun. Ich hätte das Buch aus der Perspektive einer Amerikanerin wie mir schreiben können, die diesen alternativen Bewegungen mit Sympathie begegnet. Dann wäre es die Geschichte einer Desillusionierung geworden, und das wollte ich nicht. Die meisten Romane entwickeln sich von Unschuld zu Erfahrung. Ich wollte das Gegenteil versuchen. Anfangs verkörpert Sadie amerikanische, hyperindividualistische Brutalität. Sie sagt: «Ich vermisse unsere Leidenschaft für Gewalt, Dummheit und Freiheit.»
Und dann wird ihre Perspektive unter Brunos Einfluss zunehmend planetarisch, ja kosmisch.
Genau. Aber ich möchte Amerika nicht dämonisieren, wie das Europäer gelegentlich tun. Der Mix all der verschiedenen Leute und der Kult um die ungezügelte Autonomie haben zu einer faszinierenden Kultur geführt, denken wir allein an die afroamerikanischen Innovationen wie Jazz oder Hip-Hop – gefährlich und lebendig. Das ist der freiheitliche Spirit von «jeder für sich». Bei den Franzosen gibt es klarere Vorstellungen, wie man sich verhalten und in die Gemeinschaft einfügen muss.
Haben Sie bei der nihilistischen, egoistischen Sadie auch an Trump und seinesgleichen gedacht?
Nein. Trump sieht sich als einen König des Dschungels und als Gott. Alles dreht sich um sein Ich. Wenn er etwas nicht kriegt, dann sollen es die andern auch nicht haben. Sadie hingegen hat nicht einmal eine Identität. Sie ist eher ein James-Bond-Typ. Nimmt sich alle Freiheiten, erledigt ihren Job und verschwindet. Ich habe keine Theorie, was gegenwärtig in den USA passiert, und zum Glück muss ich auch keine haben. Ich sitze in meiner Höhle, beobachte und verwandle es in Fiktion.
Aber in «See der Schöpfung» geht es um extreme Perspektiven auf unsere Gesellschaft, da kommt man nicht darum herum, es vor dem Hintergrund der aktuellen Polarisierung zu lesen.
Ich habe den Roman geschrieben, bevor Trump gewählt wurde. Aber es gehört zum Faszinierenden der Literatur, dass sie sich manchmal bewahrheitet. Manche Schriftsteller wie Don DeLillo sind prophetisch. Aber ich habe den Schulterschluss zwischen Technokraten aus dem Silicon Valley und Neofaschisten nicht kommen sehen. Die Metapher vom führerlosen Wagen bewahrheitete sich wörtlicher, als ich voraussah.
Man denkt an einen selbstfahrenden Tesla und Elon Musk. Aber es gab noch weitere Vorwegnahmen.
Ja, ich hatte die erste Fassung des Buches 2022 fertiggestellt, als die Grassroots-Bewegung Soulèvement de l’air in Frankreich für Furore sorgte, mit deutlichen Parallelen zu den Moulinards in «See der Schöpfung». Kurz darauf versuchte Macron eine Landwirtschaftsmesse zu besuchen, und die Bauern blockierten die Strasse mit Heuballen, die sie anzündeten. Vielleicht ist es ein Zufall, aber ich musste schon lachen. Als ob sie meinem Skript gefolgt wären!
Sadie äussert im Buch einmal den Satz: «Welchem nackten, einsamen Ich begegnen die Menschen um vier Uhr morgens? Was finden sie da vor? Keine Politik. Es gibt im Menschen keine Politik.» Ist Politik lediglich ein Oberflächenphänomen?
Vielleicht gibt es tief in unserem Inneren eine Vorstellung von richtig und falsch, von Politik im weitesten Sinn, also wie die Gesellschaft organisiert werden soll. Aber sicher keine Parteipolitik, die viel mit sozialer Identität zu tun hat: Ich bin dieser Typus, trage diese Kleider, höre diesen Radiosender, fahre diese Automarke, rezykliere meinen Abfall oder nicht. Damit signalisieren wir den andern und uns selbst eine kohärente Persönlichkeit und einen konsequenten Lebensstil. So fühlen wir uns real, auch wenn wir allein sind. Aber nicht, wenn wir mitten in der Nacht verwirrt aufwachen. Dann ist alles viel dunkler.
Und das Verhalten deckt sich ja auch nicht immer mit der Ideologie.
Genau. Da gibt es die Linksradikalen, die sich plötzlich der Armee anschliessen. Und dann fragt man sich: Was war genau der Zweck ihres demonstrativen Engagements? Umgekehrt gibt es viele Trump-Wähler, die warm und offen sind, mit einer volkstümlich-christlichen Nachbarlichkeit. Wenn du Durst hast, geben sie dir etwas zu trinken. Während die Linken oft viel dogmatischer und ausschliessender sind.
Es gibt im Buch diese lustige Tractor-Pulling-Szene in Schaffhausen. Da zeigt sich auch ein solcher Clash – zwischen den mürrischen Aktivisten aus Zürich, die sich selbst sehr ernst nehmen und die Riesentraktoren sabotieren wollen, aber keine Ahnung haben, wie, und den sympathischen, glücklichen Bauern.
Ich gehe manchmal für Buch-Events nach Zürich. Es machte Spass, die Leute aus dieser sauberen, bürgerlichen, diskreten und teuren Stadt dem volkstümlichen Spektakel gegenüberzustellen, mit all dem Dreck, Lärm und stinkigen Rauch.
«See der Schöpfung» ist ein dramatisches Buch, in dem es um die Zukunft der Menschheit geht, mit einer zynischen, rücksichtslosen Protagonistin und einer idealistischen Kommune, die dem Untergang geweiht ist. Und trotzdem liest man das Buch mit Genuss, ja Freude.
Das spiegelt die Freude, die ich beim Schreiben empfand. Ja, es ist ein Widerspruch. Ich bin ein glücklicher Mensch, ich empfinde das Leben als Segen. Aber ich weiss nicht, wie ich das zusammenbringe mit der technischen Zerstörung unserer Welt, die von Sekunde zu Sekunde um uns herum voranschreitet.
Rachel Kushner: See der Schöpfung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Rowohlt, Hamburg 2025. 480 S., Fr. 36.90.
Rachel Kushner liest am 4. Mai um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich aus ihrem Roman.
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